Putin macht weitere Stadt platt – dabei verlieren beide Seiten ihre besten Kämpfer
Nach wochenlangem Kampf konnte Russland zuletzt die strategisch wichtige Stadt Sjewjerodonetsk im Osten der Ukraine einnehmen. Nach den blamablen Niederlagen zu Beginn des Krieges hat Wladimir Putin seine Strategie geändert. Seine Armee greift nicht mehr an breiter Front an, sondern konzentriert sich auf wenige Ortschaften.
Das perfide Vorgehen der Russen: Die Städte mit Artilleriebeschuss so lange zu beschiessen, bis nichts mehr übrig bleibt, das man noch verteidigen könnte. So geschehen in Sjewjerodonetsk.
Als der Gouverneur des Oblasts Luhansk, Serhij Hajdaj, am Freitag den Rückzug verkündete, sagte er: «Es ist jetzt eine Situation, in der es keinen Sinn macht, in zerschlagenen Stellungen auszuharren.» Die Russen machten die Stadt dem Erdboden gleich. 90 Prozent der Häuser seien zerstört, meinte Hajdaj. Von den einst 100’000 Einwohnern seien nur noch 7000 bis 8000 übrig.
Nach Mariupol ist Sjewjerodonetsk also die zweite grössere Stadt, welche Putin komplett in Schutt und Asche legte, bevor er sie einnehmen konnte. Das gleiche Schicksal droht nun Lysstytschansk, das neben Sjewjerodonetsk liegt.
Die Konsequenzen des Artillerie-Beschusses
Die heftigen Kämpfe fordern einen hohen Blutzoll. Die Ukrainer meldeten zuletzt 100 bis 200 getötete Soldaten pro Tag. Für die Kampfkraft der ukrainischen Armee hat dies herbe Konsequenzen. Denn die Soldaten, die im Osten fallen, gehören oft zu den besten Kämpfern des Landes. Dies ist auch in einer Reportage des Senders Sky News zu sehen, in der eine Elite-Einheit der Ukrainer im Donabs begleitet wurde.
«Wie viele Männer haben Sie seit Beginn des Krieges verloren?», will der Reporter vom Anführer mit dem Namen Oleksander wissen. Sichtlich betreten meint dieser: «Meine Einheit bestand zu 100 Prozent aus professionellen Soldaten mit viel Erfahrung. Mittlerweile sind 80 Prozent kampfunfähig, da sie schwer verletzt oder tot sind.»
An der Front ist auch eine Frau namens Irina Tsybuh, welche die verletzten Soldaten behandelt. Nach vier Monaten Krieg ist sie mit ihren Kräften fast am Ende. Sie würde am liebsten einige Wochen schlafen, Netflix schauen und Fast Food beim Kurier bestellen, erzählt sie «Sky News». Auch ihr geben die horrenden Verluste zu denken. Viele der besten Soldaten des Landes seien bereits verloren gegangen, sagt die Medizinerin. Sie behandle nun die weniger erfahrenen Kollegen. «Die Jungs, die jetzt hierherkommen, sind keine Profis. Sie wissen nicht, was sie tun müssen. Und sie haben grosse Angst.»
Wie lange man solch hohe Verluste noch aushalten könne, will der Sky-Reporter von Oleksander wissen. Dieser antwortet: «Ich kann diese Frage nicht beantworten. Das ist schwierig.»
Ukraine erhält immer mehr Artillerie
Momentan scheint sich alles um die Frage zu drehen, wer in diesem Krieg den längeren Atem hat. Die geografischen Gewinne seien aktuell nicht der wichtigste Punkt, sagt Russland-Experte Michael Kofman kürzlich im Podcast Geopolitics Decanted. «Es geht darum, wem die Ausrüstung, die Munition und die besten Einheiten zuerst ausgehen werden.»
Experten gehen davon aus, dass die Artillerie der Russen jener der Ukrainer um das Zehnfache überlegen ist. Doch diese Überlegenheit ist nicht in Stein gemeisselt. Denn die Ukrainer können auf immer mehr Artillerie aus dem Westen setzen.
Anfang Juni wurden erstmals französische Caesar Haubitzen an der Front gefilmt. Auch die deutschen Panzerhaubitzen sind mittlerweile in der Ukraine angekommen. Aus den USA sind M777-Haubitzen im Einsatz, mit dem Langstreckenwaffensystem HIMARS sollen unbestätigten Berichten zufolge bereits erste Angriffe erfolgt sein.
Russischer Militärblogger ist besorgt
Ob die Ukrainer dank der modernen Waffen aus dem Westen, den russischen Vormarsch im Donbas stoppen und allenfalls sogar Gebiete zurückgewinnen können, wird sich weisen. Klar ist indes: Der Krieg zehrt auch an den russischen Kräften. Mitte Juni gab die selbsternannte Volksrepublik Donezk bekannt, dass bereits 2128 ihrer Kämpfer gefallen seien. Fast 9000 seien verwundet worden. Somit wären 55 Prozent der ursprünglichen Streitkräfte kampfunfähig, rechnete das britische Verteidigungsministerium vor.
Wie viele gefallenen Soldaten Russland insgesamt zu beklagen hat, kann nicht mit abschliessender Gewissheit gesagt werden. Es dürften jedoch bereits Zehntausende sein. Der russische Militär-Blogger Juri Kotyenok kommt deshalb zum Schluss, dass Russland seine Ziele aufgrund des Mangels an Soldaten nicht erreichen kann. «Ich werde kein militärisches Geheimnis verraten, denn nur ein Blinder kann es nicht sehen: Russland verfügt nicht über genügend physische Kräfte im Bereich der militärischen Sonderoperation in der Ukraine», schrieb er vergangene Woche zu seinen über 300’000 Followern auf Telegram. Wie die Ukrainer beklagte auch Kotyenok den Verlust der besten Kämpfer. «Uns gehen die gut ausgebildeten Einheiten aus», so der Militär-Blogger.