Selenski-Berater kündigt an: In zwei Monaten folgt der grosse Gegenschlag der Ukraine
Die freimütigen Äusserungen von Michailo Podoljak machen vor allem eines klar: wie schwer der Druck auf dem ukrainischen Oberkommando lastet, die verlustreiche Verteidigung von Bachmut zu rechtfertigen.
In einem Interview mit der italienischen Zeitung «La Stampa» steht der Berater von Präsident Selenski mit bisher ungewohnter Offenheit zur eigenen Abwehrtaktik: So will die Ukraine den russischen Truppen in Bachmut weiterhin die schwerstmöglichen Verluste zufügen, um parallel dazu möglichst erfolgversprechend die eigene Gegenoffensive vorzubereiten.
«Wir müssen uns nicht beeilen. Wir werden uns über die nächsten beiden Monate reorganisieren. Wir werden die Russen in Bachmut auslaugen und uns dann auf eine andere Stelle konzentrieren», wird Podoljak in «La Stampa» zitiert.
In den vergangenen Monaten sind verschiedentlich Unmutsäusserungen ukrainischer Offiziere und Soldaten bekannt geworden, die sich für die Räumung der strategisch zweitrangigen Stadt ausgesprochen haben. Die hohen eignen Verluste färben sich zweifellos auf die Truppenmoral ab.
Die deutsche «Bild»-Zeitung berichtete sogar von einem offenen Streit zwischen Präsident Selenski und Generalstabschef Waleri Saluschni über die Fortführung der Schlacht. Wie viele Soldaten die Ukraine während der bald neunmonatigen Kämpfe verloren hat, ist nicht bekannt. Die Verluste gehen aber zweifellos in die Tausende. Kiew reagierte darauf mit einem Communiqué, das die Einigkeit zwischen Präsident und Armeeführung betonte. Das Ausharren in Bachmut sei «notwendiger denn je».
Selbst ein kleiner Sieg Russlands wäre fatal
Entsprechend versucht das ukrainische Oberkommando seit mehreren Tagen, in der Sinnfrage die Deutungshoheit zurückzugewinnen. Zuerst verteidigte Präsident Wolodimir Selenski in einem CNN-Interview den Verbleib in Bachmut: Der Fall der Stadt würde den Russen den Weg zur Eroberung weiterer Ortschaften im Donbass freimachen. Zudem drohe selbst ein kleiner Sieg die Gesellschaft in Russland zu mobilisieren und das Vertrauen in die russische Armee zu stärken.
Dann besuchte der ukrainische Heereschef Oleksandr Sirski mehrfach die belagerte Stadt, um den eigenen Truppen Mut zuzusprechen. Als weitere öffentlichkeitswirksame Massnahme beziffert seit wenigen Tagen die ukrainische Armee die russischen Verluste in Bachmut in einer täglichen Bilanz, was sie bisher für einen einzelnen Frontabschnitt noch nie getan hat. Über die eigenen Verluste herrscht dagegen weiterhin Stillschweigen.
Am Sonntagabend betonte Selenski die hohe Opferzahl, welche die heldenhafte Verteidigung Bachmuts den Russen abverlange. Alleine seit dem 6. März hätten die Russen dort 1100 Tote zu beklagen. Hinzu kämen 1500 Verwundete, die dauerhaft nicht mehr kampffähig seien. «Ich bedanke mich bei allen, die wirklich um ukrainisches Land kämpfen, um Bachmut!», sagte Selenski in seiner Ansprache.
Ist im Kreise internationaler Militärexperten die ukrainische Bachmutstrategie heiss umstritten, hat sie jüngst einen prominenten Fürsprecher erhalten. Der frühere US-Oberbefehlshaber im Irak und CIA-Chef David Petraeus sagt, dass Selenski «gar keine andere Wahl hat, als seine Kämpfer zu bitten, Bachmut zu halten».
Denn im «Fleischwolf» von Bachmut gehe es nicht nur um die zahlenmässige Höhe der russischen Verluste, sondern auch um deren Qualität, stellt der Ex-General in der Zeitschrift «Politico» fest: Da dort neben den Wagner-Söldnern vor allem Eliteverbände der Luftlandetruppen eingesetzt werden, schwäche deren Dezimierung die russische Armee ganz besonders.
Laut Petraeus hat Russland nur noch eine Division nicht im Kampf eingesetzt: «Das ist eine sehr kleine Reserve, um Frontdurchbrüche ausnützen zu können.» Auf ukrainischer Seite hingegen häufen sich seit Tagen die Meldungen, dass die Ausbildung im Ausland an westlichen Kampffahrzeugen wie den britschen Challenger-Kampfpanzern und den amerikanischen Bradley-Schützenpanzern kurz vor dem Abschluss steht.
Was Petraeus nicht ausspricht: Die Bachmut-Strategie wird damit auf Gedeih und Verderb mit dem Gelingen der ukrainischen Gegenoffensive verknüpft. Wirft Selenskis Armee im Frühjahr in grossem Stil die Russen zurück, hat er bei Bachmut richtig gehandelt. Zeigen sich hingegen die russischen Linien doch nicht so geschwächt wie erhofft, könnte das die Stellung des ukrainischen Präsidenten bei Volk und Armeeführung empfindlich untergraben.