Selenski spielt nicht mit offenen Karten: USA und Biden verlieren die Geduld
Eigentlich ist Avril Haines die am besten informierte Frau in Washington. Als Koordinatorin der amerikanischen Geheimdienste beaufsichtigt die ausbildete Physikerin und Juristin die Arbeit der 17 Nachrichtendienste – und kann damit Einsicht in alle Dossiers nehmen, die von Schlapphüten und Analysten zusammengestellt werden.
Als Haines aber kürzlich in einem Senatsausschuss Fragen über den Kriegsverlauf auf den Schlachtfeldern der Ukraine und die nächsten Schritte von Präsident Wolodimir Selenski beantworten sollte, da musste auch sie passen. Es sei «sehr schwer zu sagen», wie die künftige Strategie der Ukraine aussehen werde, sagte Haines. «Wir haben wohl einen besseren Einblick in die russische Seite als die ukrainische Seite.»
Will heissen: Obwohl Washington seit der russischen Invasion für die Ukraine zivile und militärische Hilfspakete im Wert von mehr als 50 Milliarden Dollar genehmigt hat, tappt Präsident Joe Biden weitgehend im Dunkeln. Die Regierung in Kiew informiert den wichtigsten Verbündeten nicht über die Pläne der heimischen Streitkräfte. Rückschläge im Kampf gegen die Russen bleiben geheim. Selbst US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, der sich regelmässig mit Offiziellen in Kiew austauscht, besitze keine Zusatzinformationen, berichtete kürzlich die «New York Times».
Ukrainer kämpfen mit Waffen-Handbüchern und Google Translate
Erklären lässt sich dieses äussert ungewöhnliche Arrangement mit der Absichtserklärung Bidens, keine amerikanischen Truppen in der Ukraine zu stationieren. Auch zog Washington, jedenfalls gemäss amtlichen Angaben, sämtliche Militärberater und Ausbildner aus Kiew ab. Den Amerikanern fehlt damit der direkte Draht zu den ukrainischen Streitkräften und den kommandierenden Generälen.
Kiew scheint sich mit dieser «roten Linie» Bidens abgefunden zu haben. Politisch ist es für Selenski ein Vorteil, dass Washington die Ukraine nicht am Gängelband führt. Die Siege, mit denen Kiew gerade zu Kriegsbeginn für Aufsehen sorgte, sind damit umso beeindruckender.
Die ungewöhnliche Partnerschaft hat aber auch Nachteile. So fällt es den ukrainischen Streitkräften zunehmend schwer, die modernen Waffen und Hilfsmittel aus ausländischer Produktion auf dem Schlachtfeld einzusetzen. Die «New York Times» berichtete kürzlich über den Einsatz von Nachtzielgeräten des Typus JIM LR – ein Hightech-Feldstecher, der Artillerie-Ziele in 10 Kilometer Entwerfung lokalisieren kann.
Das Problem? Die ukrainischen Truppen, stationiert in der Umgebung von Cherson, wissen nicht, wie die Geräte funktionieren. «Ich habe versucht zu lernen, wie man es benutzt, indem ich das Handbuch auf Englisch gelesen und Google Translate verwendet habe, um es zu verstehen», zitierte die Zeitung einen Korporal der ukrainischen Streitkräfte. (In einer Folgenachricht sagte der Korporal angeblich: «Kommen Sie in einer Woche wieder, dann werden Sie sehen, dass ich es herausgefunden habe.»)
Hinzu kommen Schwierigkeiten mit der Kompatibilität zwischen Waffen sowjetischer Bauart – einst der Standard in den ukrainischen Streitkräften – und Produkten aus Nato-Ländern. So spuckt der JIM LR die Zielkoordinaten in einem Format aus, das mit traditionellen ukrainischen Karten nicht vereinbar ist.
Ein anderes Beispiel: Die Haubitzen des Typus M777, mit denen die Ukrainer russische Truppen beschiessen können, beruhen auf dem Masssystem, das in Amerika geläufig ist. Sie lassen sich deshalb nicht mit europäischen Schraubenschlüsseln auseinandernehmen und warten.
Washingtons Politiker wollen mehr Aufsicht
In Amerika wiederum herrscht die Angst vor, dass Kiew die Regierung Biden vor vollendete Tatsachen stellen könnte, falls der Wind auf dem Schlachtfeld dreht. Der US-Präsident betont zwar immer wieder, dass es Sache Selenskis sei, den Krieg am Friedenstisch zu beenden – Amerika jedenfalls werde der Ukraine keine Konzessionen aufzwingen. Biden will sich aber nicht dem Vorwurf aussetzen, Geld aus dem Fenster zu werfen.
Damit steht der Präsident nicht allein. Am rechten und linken Flügel des politischen Spektrums wird der Ruf nach besserer Aufsicht über die amerikanischen Hilfspakete für die Ukraine lauter. Abgeordnete in Washington wollen wissen, wie und wo Kiew die US-Waffen einsetzt.
So sagte die demokratische Senatorin Elizabeth Warren kürzlich während einer Anhörung: Sie unterstütze die Ausgaben, «aber ich bin sehr besorgt über die Risiken der Verschwendung», angesichts der milliardenschweren Hilfspakete. Die Mittel, die der Kongress in Washington genehmige, müssten verantwortungsvoll ausgegeben werden; bisher aber habe das Pentagon es unterlassen, Rechenschaft über die verteilten Gelder abzulegen.
Mit ein Grund für dieses zögerliche Vorgehen: Das amerikanische Verteidigungsministerium verfügt nicht über die gewünschten Informationen zu den amerikanischen Waffen. «Sobald dieses Material in die Ukraine gelangt, gehört es der Ukraine», sagte ein anonymer Pentagon-Berater vor einigen Wochen, als Austins Ministerium noch regelmässig über den Kriegsverlauf informierte. «Und was sie damit machen, wo sie es lagern, wie sie es an ihre Truppen liefern, ist ihre Sache.»