
Kämpfe und Massaker in Syrien: Kehrt der Bürgerkrieg zurück?
Rund drei Monate nach dem Sturz von Langzeitherrscher Baschar al-Assad ist es in Syrien zu heftigen Kämpfen und Berichten zufolge zu schweren Massakern an der Zivilbevölkerung gekommen. Mehr als 160 Zivilisten sollen nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte von Kämpfern aufseiten der neuen Übergangsregierung hingerichtet worden sein. Es soll sich dabei um Angehörige der alawitischen Minderheit gehandelt haben. Auch Frauen und Kinder sollen unter den Toten sein.
Aktivisten aus der Stadt Idlib, mit denen die dpa sprechen konnte, machten bewaffnete Unterstützer der Übergangsregierung aus ihrer Provinz, die sich Befehlen aus Damaskus widersetzt haben sollen, für die Massaker verantwortlich. Insgesamt starben bei den Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der gestürzten Regierung von Ex-Präsident Baschar al-Assad und den neuen Machthabern nach Angaben der in Grossbritannien ansässigen Beobachtungsstelle bislang mindestens 237 Menschen.
Was sagt die neue syrische Regierung?
Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa wandte sich am Freitagabend an die Bevölkerung. Überbleibsel der gestürzten Ex-Regierung hätten versucht, «das neue Syrien zu testen», sagte er. Al-Scharaa lobte zudem die Reaktion der Sicherheitskräfte und rief deren Gegner auf, ihre Waffen niederzulegen. Jeder, der Übergriffe gegen Zivilisten begehe, werde hart bestraft, kündigte der frühere Rebellenchef an, für den die Auseinandersetzungen der erste grosse Test seit der Machtübernahme darstellen. Die Massaker erwähnte er nicht direkt. Er richtete jedoch einen Aufruf an «alle Kräfte, die sich an den Kämpfen beteiligt haben» sich den Befehlshabern des Militärs zu unterstellen und «die Stellungen unverzüglich zu räumen, um die aktuellen Verstösse zu kontrollieren». Der Chef des syrischen Geheimdiensts, Anas Khatab, hatte führende Figuren aus dem Militär- und Sicherheitsapparat des gestürzten Ex-Präsidenten Baschar al-Assad für die Auseinandersetzungen verantwortlich gemacht. Diese hätten eine verräterische Operation gestartet, bei der Dutzende Mitglieder von Armee und Polizei getötet worden seien, teilte Khatab per Kurznachrichtendienst X mit. Sie würden dabei aus dem Ausland gesteuert. Die Beobachtungsstelle hatte berichtet, dass bei Angriffen am Donnerstag 16 Mitglieder der Sicherheitskräfte der Regierung getötet worden waren.
Wo spielen sich die Kämpfe ab?
Die Auseinandersetzungen spielen sich vor allem an der Mittelmeerküste ab, die Region gilt als Hochburg der religiösen Minderheit der Alawiten, der auch Ey-Präsident al-Assad angehört. Unter anderem in der Stadt Dschabla etwa 25 Kilometer südlich von Latakia, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, soll es zu schweren Gefechten gekommen sein. Für Latakia und auch die weiter südlich gelegene Küstenstadt Tartus wurden bis Samstagvormittag Ausgangssperren verhängt. Nach Angabe eines Offiziers verlegte die Regierung am Freitag grössere Truppenkontingente in die Küstenregion. Seitens der Regierungstruppen seien Artilleriegeschütze, Panzer und Raketenwerfer eingesetzt worden, hiess es. Massaker an der Zivilbevölkerung Berichten der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte zufolge töteten Kämpfer aufseiten der Übergangsregierung an mehreren Orten Zivilisten. «Es wurden Massaker an der alawitischen Religionsgemeinschaft verübt», sagte der Direktor der in Grossbritannien ansässigen Beobachtungsstelle, Rami Abdel-Rahman, der Deutschen Presse-Agentur. Ein Augenzeuge in der Stadt Banias, wo allein 60 Menschen getötet worden sein sollen, sagte der dpa am Telefon, es herrsche totales Chaos. «Unschuldige Menschen, die unbewaffnet waren, wurden entweder in ihren Häusern oder davor vor den Augen ihrer Familien erschossen», so der Mann, der aus Angst vor Repressalien nicht namentlich genannt werden wollte. Im syrischen Staatsfernsehen hiess es, Unbekannte hätten sich in Uniformen der Regierungstruppen verkleidet und die Taten begangen, um einen Bürgerkrieg anzustiften. Geheimdienstchef Khatab hatte die eigenen Kämpfer zur Zurückhaltung aufgerufen.
Wie reagiert die Bevölkerung?
Tausende Menschen hatten sich am in Damaskus und etlichen anderen Städten versammelt, um gegen die bewaffneten Anhänger des gestürzten Ex-Präsidenten al-Assad zu demonstrieren. Viele forderten, die bewaffneten Angriffe zurückzuschlagen und die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen. In der gebirgigen Küstenregion sind teilweise noch bewaffnete Gruppen mit Verbindungen zu der im Dezember gestürzten Vorgängerregierung aktiv. Der Sprecher des syrischen Verteidigungsministeriums, Hasan Abdal Gany, teilte mit, wer seine Waffen nicht niederlege, müsse sich einem «unausweichlichen Schicksal» stellen. Assad hatte Syrien mehr als zwei Jahrzehnte regiert. Nach einer Blitzoffensive unter Führung der Islamistengruppe HTS Ende vergangenen Jahres floh er nach Russland. Die neue Übergangsregierung unter Führung von al-Scharaa versucht seitdem die Sicherheit im Land wiederherzustellen und die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Al-Scharaa versprach bei Amtsantritt, alle Gruppen in dem Land in einen Prozess der politischen Erneuerung einzubeziehen und Menschenrechte zu achten. Er hofft damit auf eine Aufhebung westlichen Sanktionen gegen sein Land. (dpa)