«Mangelnde Krisenvorbereitung»: Diese Fehler haben Bund und Kantone in der Corona-Pandemie gemacht
«Bund und Kantone haben meist angemessen und – von Ausnahmen abgesehen – zeitgerecht auf die Covid-19-Bedrohungslage reagiert.» Zu dieser Erkenntnis gelangt das Forschungsbüro Interface in einer vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) in Auftrag gegebenen Evaluation.
Im Bericht kommen Studienleiter Andreas Balthasar und seine Mitarbeitenden zum Schluss, dass die Schweiz im Kern der medizinischen Versorgung erfolgreich war. Das Gesundheitssystem sei nie zusammengebrochen und stets in hoher Qualität gewährleistet gewesen. Gemäss Interface-Bericht zeugt auch die grosse Akzeptanz der Massnahmen in der Bevölkerung von der «Angemessenheit der Reaktion des Bundes».
Zwischen Oktober 2020 und März 2022 evaluierte Interface die Krisenbewältigung durch Bund und Kantone während der Coronapandemie. Dafür verwendeten sie Daten aus dem Zeitraum von Dezember 2020 bis Juni 2021. Für die Evaluation wurden Befragungen der Bevölkerung, Gespräche mit Expertinnen und Literaturanalysen durchgeführt.
Diese drei Punkte muss der Bund überdenken
Nichtsdestotrotz zeigt der Bericht Mängel im Krisenmanagement auf: So kritisieren die Studienautoren die Massnahmen, welche zu Beginn der Pandemie zum Schutz von älteren Menschen ergriffen wurden. Im Bericht heisst es:
«Die Ausgangs- und Besuchsverbote führten zu grossem Leid bei den Bewohnerinnen und ihren Angehörigen sowie zum Teil zu negativen gesundheitlichen Auswirkungen bei den Betroffenen.»
Grund für diese Problematik sei die «mangelnde Krisenvorbereitung bei Bund, Kantonen und betroffenen Institutionen».
Weiter kritisieren die Studienautoren die Schulschliessungen im Frühling 2020: «Diese führten zu grossen Belastungen von Eltern und Kindern und ziehen möglicherweise einschneidende Folgen für die Bildungsentwicklung nach sich.»
Ebenfalls in Frage gestellt wird das Verbot von nicht dringend angezeigten Eingriffen in den Spitälern. Laut Bericht seien die Kantone ohnehin «aufgrund ihrer Verantwortung für die Gesundheitsversorgung verpflichtet, dafür zu sorgen, dass solche Eingriffe im Bedarfsfall zugunsten von Notfalleingriffen aufgeschoben werden».
Auch Kantone waren ungenügend vorbereitet
Kritisiert wird im Bericht mehrmals auch die ungenügende Vorbereitung. Es habe eine digitale Strategie gefehlt, die Lagerhaltung für Masken und Co. war ungenügend und die Abläufe innerhalb des BAG seien nicht genügend klar definiert gewesen. Diese Faktoren hätten «das zeitgerechte Ergreifen von Massnahmen erschwert».
Auch die Kantone müssen Kritik einstecken: Gemäss Bericht waren sie ungenügend auf die zweite Welle im Herbst vorbereitet und haben daher zu spät auf die Bedrohung reagiert. Daraus resultierte die «im internationalen Vergleich hohe Übersterblichkeit».
Das müssen Bund und Kantone nun überdenken
Ausgehend von der Analyse hält Interface fünf übergeordnete Empfehlungen fest. Erstens sollen sich das BAG und der Bund organisatorisch besser auf eine nächste Krise vorbereiten. Es gelte zu klären, ob eine künftige Krise basierend auf den ordentlichen Strukturen der Bundesverwaltung oder doch eher mit der Aktivierung der Krisenorgane bewältigt werden soll. Zweitens soll der Bund die Pandemie-Versorgung verbindlicher regeln. Dazu gehört unter anderem, mehr Gesundheitspersonal auszubilden und die Hausärzte sowie Apotheken stärker in die Krisenvorbereitung miteinzubeziehen.
Drittens empfehlen die Studienautoren dem BAG, «die Digitalisierung und das Datenmanagement im Gesundheitswesen voranzutreiben». Dafür brauche es nebst Geld und Arbeitskräften auch einen «politisch-strategischen Willen». Viertens soll sich das BAG genau überlegen, welche Akteure im Krisenfall in die Vorbereitung und Umsetzung von Entscheiden und Massnahmen miteinbezogen werden sollen. Zudem brauche es während einer Krise in den Kantonen eindeutige Ansprechstellen.
Die letzte Empfehlung der Evaluation richtet sich ebenfalls an das BAG: Dieses soll in einer künftigen Pandemie die Gesundheit als «ganzheitliche Herausforderung betrachten und bewältigen». Heisst: Auch psychische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen der Massnahmen müssen von Beginn an in die Pandemie-Planung miteinbezogen werden.
Einige dieser Empfehlungen – beispielsweise im Bereich Digitalisierung – haben Bund und Kantone bereits umgesetzt, andere sollen in die Revision des Epidemiengesetzes einfliessen und im nationalen Pandemieplan aufgenommen werden.