Unverhältnismässig und gegen Bundesrecht? SVP will Tempo 30 auf Kantonsstrassen im Aargau innerorts verbieten
«Generell 50» gilt im Aargau innerorts auf fast allen Kantonsstrassen. Bisher gibt es nur zwei Ausnahmen: Auf der Habsburgerstrasse in Windisch bei der Ortsdurchfahrt in Olsberg ist die Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h beschränkt. Am letzten Donnerstag hat der Kanton aber mitgeteilt, dass im Rahmen eines Versuchsbetriebs ab März 2022 auf der Bahnhofstrasse in Aarau ebenfalls Tempo 30 signalisiert wird.
Unter dem Motto «Mitenand statt Gägenand» sollen «das sichere Miteinander der unterschiedlichen Verkehrsmittel» gestärkt und der Verkehrsfluss verstetigt werden, wie das Departement Bau, Verkehr und Umwelt von FDP-Regierungsrat Stephan Attiger mitteilte. Auf dem Strassenabschnitt könne aufgrund der hohen Verkehrsdichte sowieso kaum Tempo 50 gefahren werden, heisst es in der Medienmitteilung.
Tempo 30 auf Bahnhofstrasse Aarau: Bundesrecht zu weit ausgelegt?
Doch die Umsetzung des Projekts dürfte nicht so harmonisch und konfliktfrei ablaufen, wie der Slogan «Mitenand statt Gägenand» suggeriert. Schon am Dienstag, keine Woche nach der Ankündigung von Tempo 30 auf der Aarauer Bahnhofstrasse, reichte die SVP-Fraktion im Grossen Rat einen Vorstoss ein, um dies künftig auf Kantonsstrassen innerorts zu unterbinden. Rolf Jäggi, der die Motion als Sprecher vertritt, schreibt darin:
«Dass der Kanton Aargau eine Tempo-30-Zone, wenn auch nur versuchsweise, an der Bahnhofstrasse in Aarau bewilligt, ist eine zu weite Auslegung des Bundesrechts.»
Konkret handle es sich bei der Bahnhofstrasse Aarau weder um ein Quartier noch um Siedlungsgebiet, sondern um eine Kantonsstrasse im Innerortsbereich beziehungsweise um eine verkehrsorientierte Strasse. Diese habe die Funktion, den Verkehr möglichst rasch von den Gemeinde- und Sammelstrassen zu übernehmen und überregional weiterzuleiten. Eine abweichende Höchstgeschwindigkeit stelle einen starken Eingriff dar, findet Jäggi.
Die SVP will den Regierungsrat mit ihrer Motion beauftragen, die kantonalen Prozesse und Vorgaben für die Herabsetzung auf Tempo-30-Zonen im Innerortsbereich so anzupassen beziehungsweise festzulegen, dass diese auf Kantonsstrassen keine Anwendung finden. Im Klartext: Innerorts auf Kantonsstrassen soll es nach dem Willen der Volkspartei bei «Generell 50» bleiben.
Rolf Jäggi: Praxisänderung bei Tempo 30 innerorts nicht verhältnismässig
Rolf Jäggi hält weiter fest, dass die allgemeine Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h innerorts nur aus folgenden vier Gründen reduziert werden könne:
- Wenn eine Gefahr nur schwer oder nicht rechtzeitig erkennbar und anders nicht zu beheben ist.
- Wenn bestimmte Strassenbenützer eines besonderen, nicht anders zu erreichenden Schutzes bedürfen.
- Wenn auf Strecken mit grosser Verkehrsbelastung der Verkehrsablauf verbessert werden kann.
- Wenn dadurch eine im Sinne der Umweltgesetzgebung übermässige Umweltbelastung (Lärm, Schadstoffe) vermindert werden kann.
Verkehrsbeschränkungen sind laut dem SVP-Grossrat regelmässig mit komplexen Interessenabwägungen verbunden. Er räumt ein, dass die zuständigen Behörden gemäss Bundesgericht einen erheblichen Gestaltungsspielraum hätten. Mit der Praxisänderung des Kantons an der Bahnhofstrasse Aarau werde aber weder der Verhältnismässigkeit noch der allgemeinen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h in Ortschaften Rechnung getragen, kritisiert Jäggi.
Stefan Giezendanner: Regierungsrat soll Kantonsstrassen verteidigen
Noch während der Grossratssitzung am Dienstag nahm SVP-Vertreter Stefan Giezendanner das Thema auf und sagte:
«Ich fordere den Regierungsrat auf, das Hoheitsgebiet der Kantonsstrassen zu verteidigen und den links-grünen Verkehrsromantikern den Riegel zu schieben.»
Der Sohn von alt Nationalrat Ueli Giezendanner ist selber Transportunternehmer und sagte, mit Tempo 30 auf der Bahnhofstrasse Aarau würde ein heikles Präjudiz geschaffen.
Giezendanner hatte sich im Sommer in einem eigenen Vorstoss besorgt über Tendenzen gezeigt, künftig Tempo 30 auf Kantonsstrassen durch die Hintertür einzuführen. Er fragte, ob der Regierungsrat zu seinem Wort stehe, dass auf Kantonsstrassen innerorts generell Tempo 50 gelten soll. Ja, antwortete dieser: «Die gesetzlichen Höchstgeschwindigkeiten sollen möglichst flächendeckend eingehalten werden.»
Gleichzeitig, so der Regierungsrat, sei er verpflichtet, allfällige Interessen von Dritten im Einzelfall «sorgfältig zu prüfen». Denn abweichende Geschwindigkeiten sind auf Kantonsstrassen zulässig. Es gelte aber der Grundsatz, die «harte Massnahme» einer tieferen Maximalgeschwindigkeit mit anderen Massnahmen abzuwägen und die mildeste zu wählen.
VCS-Aargau-Geschäftsführer und Grünen-Grossrat Christian Keller kontert
Kaum hatte Rolf Jäggi den Vorstoss auf Twitter publiziert, reagierte Grünen-Vertreter und VCS-Aargau-Geschäftsführer Christian Keller mit einem kritischen Tweet.
Wer frei und sicher sein will, setzt sich nicht hinter ein Steuerrad, sondern aufs Rad, schrieb er in Anspielung auf den Slogan «frei und sicher» der SVP. Auf Nachfrage sagt Keller:
«Es stimmt nicht, dass die Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h auf verkehrsorientieren Kantonsstrassen innerorts nicht zulässig ist. Es gibt mehrere Bundesgerichtsurteile, die solche Tempolimiten stützen und diverse Beispiele, wo Tempo 30 erfolgreich eingeführt wurde.»
An der Grabenstrasse in Zug war laut Keller der Lärmschutz der Grund, in Sumvitg im Bündnerland eine sehr enge Ortsdurchfahrt, in Lausanne wurde eine viel befahrene Strasse nachts auf Tempo 30 limitiert.
Aarau wie Köniz: Tempo 30 auch auf viel befahrenen Strassen möglich
In Aarau sei die Situation so, dass auf und entlang der Bahnhofstrasse viele Leute zu Fuss oder mit dem Velo unterwegs seien, sagt Keller. Die Fussgängerinnen und Fussgänger möchten die Strasse an vielen Orten queren, dies sei mit dem bestehenden Mittelstreifen schon relativ gut möglich. «Aber es macht definitiv Sinn, die Geschwindigkeit auf 30 km/h zu beschränken, das macht die Bahnhofstrasse sicherer und attraktiver für den Langsamverkehr: Velofahrerinnen und Velofahrer werden weniger bedrängt, wer zu Fuss geht, kommt einfacher über die Strasse.»
Gut vergleichbar damit sei das «Berner Modell», das entwickelt wurde, um auf stark genutzten Strassen eine gute Koexistenz der Verkehrsteilnehmer zu ermöglichen. Die Schwarzenburgstrasse in Köniz mit rund 18’000 Fahrzeugen täglich wurde 2005 mit einem Mehrzweckstreifen neu gestaltet und auf 30 km/h limitiert. «Sie gilt noch heute als Vorzeigebeispiel und ist vom Charakter her mit der Bahnhofstrasse in Aarau vergleichbar», erläutert Keller.
Christian Keller hofft auf Mehrheit für Tempo 30 im Grossen Rat
«Ich habe den Eindruck, dass im Aargau derzeit ein Umdenken stattfindet, ich weiss von mehreren Gemeinden, die beim Kanton vorstellig geworden sind und Tempo 30 fordern», sagt der Grünen-Grossrat und Geschäftsführer des VCS Aargau. Es gebe auch Regionalplanungsverbände, die sich mit diesem Thema befassten – diese Entwicklung ist aus seiner Sicht sehr erfreulich.
Keller sagt aber auch: «Ganz ehrlich: Wir hätten ein Problem, wenn die SVP-Motion gegen Tempo 30 im Grossen Rat eine Mehrheit finden würde. Das wäre ein massiver Rückschlag für eine fortschrittliche Verkehrspolitik, die Bedürfnisse von Velofahrern und Fussgängerinnen stärker berücksichtigt.» Angesichts der Besetzung der vorberatenden Kommission geht er davon aus, dass sich dort eine Mehrheit gegen Tempo 30 auf Kantonsstrassen innerorts aussprechen wird.
Wie die Abstimmung im Grossen Rat ausfallen wird, ist für den grünen Verkehrspolitiker schwierig einzuschätzen. Keller hofft aber, dass die Position der Tempo-30-Befürworter durchkommt. «Im äussersten Fall wäre es auch möglich, Tempo 30 auf Kantonsstrassen innerorts gerichtlich durchzusetzen, aber ich möchte eine politische Lösung», betont er.