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Baume-Schneider entschuldigt sich bei Sinti und Jenischen – doch das ist nicht, was sich diese gewünscht haben

Am Donnerstag hat der Bundesrat anerkannt, dass die Schweiz an den Jenischen und Sinti ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat. Er stützt sich dabei auf ein Rechtsgutachten, das zu diesem Schluss kommt – ein Genozid sei es aber nicht.

Die Schweiz hadert weiter mit einem der dunkelsten Kapitel ihrer Geschichte: die Verdingkinder. Sie wurden im 20. Jahrhundert ihren Familien entrissen, als Quasi-Leibeigene auf Bauernhöfen zur Arbeit gezwungen und gequält. Es waren meist Waisen und Scheidungskinder, aber auch Kinder von Fahrenden wie Jenischen und Sinti.

Die Aktion «Kinder der Landstrasse» und auch die Pro Juventute verfolgten die Familien und nahmen ihnen die Kinder weg, um ihre Kultur zu zerstören und den Lebensstil der Fahrenden zu unterbinden. Frauen wurden zwangssterilisiert, Jungen und junge Männer mit Schwerstkriminellen interniert. Man geht heute von bis zu 2000 Jenischen und Sinti-Opfern aus.

Der Schweizer Staat hat damit gemäss geltendem Völkerrecht ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Zu diesem Schluss kommt der Zürcher Rechtsexperte Oliver Diggelmann in einem Gutachten, das der Bundesrat am Donnerstag zur Kenntnis genommen hat. Einen Völkermord muss der Bundesrat allerdings nicht anerkennen.

Forderung der Fahrenden nicht erfüllt

Das war jedoch genau das Hauptanliegen, mit dem sich die «Radgenossenschaft der Landstrasse» an Elisabeth Baume-Schneider gewandt hat. Darin forderten Vertreterinnen und Vertreter, dass der Bundesrat die Verfolgung der Fahrenden per Beschluss als einen kulturellen Völkermord bezeichnet. Die Unterzeichnenden schreiben: «Die Schweiz muss zu dem stehen, was sie getan und gefördert hat.»

Diggelmann dagegen kommt in seinem Bericht zum Schluss: «Die Verfolgung Schweizer Jenischer kann nicht als Genozid im Sinn des völkerrechtlichen Genozidbegriffs bezeichnet werden.» Dies, weil es einer physischen oder biologischen Vernichtungsabsicht bedarf, um von einem angestrebten Völkermord sprechen zu können. Und das konnte Diggelmann nicht feststellen: «Bei den Kindswegnahmen lag offensichtlich keine physische oder biologische Vernichtungsabsicht vor.» Und Massnahmen wie Zwangssterilisierung seien so zu deuten, dass die Gruppe nicht biologisch vernichtet, sondern «die erreichte Assimilierung» abgesichert werden sollte.

Bund wiederholt die Entschuldigung

So anerkennt der Bundesrat ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, nicht jedoch einen Genozid. In einem Schreiben entschuldigt er sich bei den Sinti und Jenischen erneut für die Fremdplatzierungen und Zwangsmassnahmen. 2013 erfolgte die erste offizielle Entschuldigung. Diesmal betont der Bundesrat, dass zu den Betroffenen auch die Jenischen und Sinti gehören.

Elisabeth Baume-Schneider traf sich am Donnerstagnachmittag persönlich mit Vertreterinnen und Vertretern der Jenischen und Sinti, um ihnen «die Betroffenheit des Bundesrates» auszudrücken. Bis Ende 2025 will die Bundesrätin nun klären, inwiefern über die bereits ergriffenen Massnahmen hinaus noch weiterer Bedarf zur Aufarbeitung der Vergangenheit besteht.

Zu diesen bereits ergriffenen Massnahmen gehört ein Hilfefonds, der 1992 mit rund 11 Millionen Franken zur Wiedergutmachung eröffnet wurde. Seit 1986 richtet der Bund jährlich Beiträge an die «Radgenossenschaft der Landstrasse» und seit 1997 auch an die Stiftung «Zukunft für Schweizer Fahrende» aus. 2014 trat ein Gesetz in Kraft mit dem Ziel, Betroffene zu rehabilitieren, und ein Soforthilfefonds wurde errichtet. Seit 2017 gilt zudem ein Gesetz zur Aufarbeitung der Geschichte der Verdingkinder vor 1981, das unter anderem auch Solidaritätsbeiträge an Jenische und Sinti vorsieht.

Die Schweiz hadert mit ihrer Verantwortung

Doch nicht nur, was den historischen Umgang mit den «Kindern der Landstrasse» betrifft, tut sich die Schweiz schwer. Auch in jüngerer und jüngster Zeit mahlen die Mühlen von Politik und Behörden im Umgang mit Fahrenden oftmals langsamer, als es das Recht eigentlich gebieten würde.

Vor gut zehn Jahren ploppte das Thema sprichwörtlich über Nacht auf der politischen Agenda auf. Eine Gruppe junger Schweizer Jenischer besetzte mit Autos und Wohnwagen die Kleine Allmend in Bern und forderte mehr Halte- und Standplätze sowie Anerkennung ihrer Lebensweise auch im Alltag, statt nur auf dem Papier. Ein paar Wochen später zog die unter anderem von Mike Gerzner angeführte, neu gegründete Bewegung «Schweizer Reisende» mit ihrem Protest nach Biel weiter.

Mike Gerzner (3. v. r.), Präsident der neu gegründeten Bewegung «Schweizer Reisende», 2014 bei der Besetzung der Kleinen Allmend in Bern.
Bild: Keystone

Selbstbewusst und provokant traten die damals jungen Jenischen auf. Das löste nicht nur unter Sesshaften Kritik aus. Auch unter Fahrenden fielen die Reaktionen auf die Aktionen gespalten aus. Vor allem im Internet wurden die Vertreter des Vereins um Mike Gerzner teils hart kritisiert. Grundtenor: Das konfrontative Vorgehen schade generell den Anliegen der Fahrenden und verspiele im Speziellen den über die Jahre zurückgewonnenen Goodwill bei Behörden und Politik. Zudem wurde kritisiert, mit ihrem Forderungskatalog zugunsten der Schweizer Fahrenden würden sie die hiesigen und ausländischen Volksgruppen gegeneinander ausspielen.

Die Jungen sahen derweil das Recht auf ihrer Seite. So hatte das Bundesgericht bereits 2003 entschieden, dass Kantone und Gemeinden mehr Plätze für Fahrende bereitstellen müssten.

Der Wille zur Umsetzung ist nur bedingt da

Doch nirgends liessen sich neue Standplätze finden, trotz dieser offiziellen Anerkennung.

Laut dem jüngsten, alle fünf Jahre erhobenen sogenannten Standbericht fehlen in der Schweiz noch immer mehrere Dutzend Stand- und Durchgangsplätze für Fahrende. So gab es 2021 lediglich 47 Plätze. Benötigt würden im ganzen Land insgesamt 80 bis 90 zusätzliche Plätze. Laut dem Bericht gibt es noch immer schätzungsweise 2000 bis 3000 Jenische und Sinti mit einer fahrenden Lebensweise.

Etwas gebessert hat sich in den vergangenen Jahren einzig die Lage für internationale Fahrende. Nachdem es lange Zeit nur einen einzigen Transitplatz in Graubünden gab, existieren inzwischen deren sieben. Damit sollte das Konfliktpotenzial zwischen Schweizern und ausländischen Fahrenden gesenkt werden.

Das Hadern mit dem eigenen Land

Entsprechend resigniert tönt heute Mike Gerzner. Er kritisiert, dass in den vergangenen zehn Jahren «eigentlich nichts passiert» sei. Zum Bundesratsentscheid sagt er nur lakonisch, dass es doch nicht darauf ankomme, ob man das juristisch als Völkermord bezeichnen kann oder nicht. «Es ist ein Genozid, das weiss ich. Und zwar ganz sicher.»

Seit den wilden Jahren vor gut einem Jahrzehnt ist es um die Bewegung «Schweizer Reisender» ruhiger geworden. Nach runden Tischen, Demonstrationen und Besetzungen haben sie sich in die Strukturen der Schweizer Fahrenden eingegliedert. Viele Aktivisten haben inzwischen selbst Familien und sind ins Berufsleben eingebunden. «Aber wir sind noch immer unterwegs», sagt Mike Gerzner.