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Ist Gratis-ÖV in der Schweiz möglich? Verschiedene Initiativen fordern, dass Bus- und Zugfahrten nichts mehr kosten

Was Freiburgerinnen und Stadtzürcher nicht dürfen, ist im Kanton Waadt möglich: Über die Einführung des kostenlosen öffentlichen Verkehrs abstimmen. Das sind die Gründe.

Einfach in den nächsten Bus steigen, ohne ans Ticket denken zu müssen: Das ist die Vision verschiedener Initiativen, die in der Schweiz auf kommunaler und kantonaler Ebene lanciert wurden. Sie fordern, dass der Staat die Kosten für den öffentlichen Verkehr vollumfänglich übernimmt – heute bezahlen die Fahrgäste schweizweit gesehen rund die Hälfte.

Doch ob sich die Stimmbürgerschaft tatsächlich zur Einführung des kostenlosen ÖV äussern kann, ist ortsabhängig. So wurde eine entsprechende Initiative von der Regierung der Städte Bern und Zürich sowie des Kantons Freiburg für ungültig erklärt. Ihrer Ansicht nach liegt ein Verstoss gegen die Bundesverfassung vor, die besagt, dass die ÖV-Nutzenden die Kosten «zu einem angemessenen Teil» übernehmen müssen. Zu einem anderen Schluss gelangte der Kanton Waadt, wie die Tageszeitung «24heures» am Montag berichtete. Der Staatsrat hält die Initiative für gültig und will über sie abstimmen lassen. Wie kann das sein?

Neuenburg geht erneut über die Bücher

Der Kanton Waadt bestätigt auf Anfrage den Entscheid der Regierung und verweist auf das Prinzip «in dubio pro populo» (frei übersetzt: «im Zweifel für das Volk»). Dieser Grundsatz besagt, dass eine Initiative nur dann für ungültig erklärt werden sollte, wenn sie zweifelsfrei gegen höherrangiges Recht verstösst. Der Waadtländer Staatsrat kam zum Schluss, dass dies beim Gratis-ÖV nicht der Fall ist. Im entsprechenden Beschluss begründet er dies mit dem Bundesgesetz über die Personenförderung. Dieses erlaubt es den Kantonen und den Gemeinden, im öffentlichen Verkehr Tarifvergünstigungen zu verfügen, sofern sie die Kosten dafür übernehmen.

Spannend ist: Derselben Argumentation bediente sich auch der Neuenburger Staatsrat, als er im Jahr 2018 eine gleichlautende Initiative für gültig erklärte und zur Abstimmung empfahl. Mittlerweile wird dieser Standpunkt jedoch hinterfragt. Gegenüber CH Media sagt Mathieu Erb, Generalsekretär des Departements für Raumplanung und Umwelt im Kanton Neuenburg, dass der Staatsrat den bereits getroffenen Entscheid nochmals überprüfe.

«Derzeit laufen Abklärungen beim Bundesamt für Verkehr, von dem wir bis im März eine Antwort erwarten.»

Grund dafür seien die jüngst bekannt gewordenen Beurteilungen anderer Städte und des Kantons Freiburg in Bezug auf ähnliche Initiativen.

Nicht zu billig, nicht zu teuer

Dass ein Kanton eine bereits zur Abstimmung empfohlene Initiative nochmals auf ihre Gültigkeit hin überprüft, bezeichnet Felix Uhlmann als «sehr ungewöhnlich». Der Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Zürich betont jedoch, dass eine erneute Prüfung grundsätzlich möglich sei, wenn der ursprüngliche Entscheid rechtswidrig war.

In Zürich wurde die Initiative für ungültig erklärt.

Im Fall der Neuenburger Gratis-ÖV-Initiative ist dies – nach Ansicht von Felix Uhlmann – der Fall. «Ich sehe einen Konflikt mit der Bundesverfassung, wenn der öffentliche Verkehr für die ganze Bevölkerung gratis wird», so seine persönliche Einschätzung. Schliesslich werde im Artikel 81a festgehalten, dass die ÖV-Nutzenden einen «angemessenen» Teil der Kosten zu zahlen hätten. Doch was genau ist damit gemeint? Nach der Interpretation des Bundesrates ist der «angemessene» Preis nicht zu billig, um einen unkontrollierten Anstieg der Nachfrage zu verhindern, und auch nicht zu teuer, um den Menschen einen gewissen Anreiz zur Nutzung des öffentlichen Verkehrs zu geben.

Natürlich gebe es einen «beträchtlichen» Spielraum des Gesetzgebers, erklärt Uhlmann. Er verweist etwa auf den Umstand, dass unter 6-Jährige schon heute kein Ticket besitzen müssen.

«Wenn wir die Kostenfreiheit aber auf die ganze Bevölkerung ausweiten, haben wir den Graubereich definitiv überschritten.»

In Bezug auf das Personenbeförderungsgesetz gibt der Staatsrechtsprofessor zudem zu bedenken, dass Gesetze verfassungskonform ausgelegt werden müssen. Sprich: Um einen Widerspruch zur Bundesverfassung zu vermeiden, wäre das Gesetz so zu interpretieren, dass zwar die Ticketpreise reduziert, aber nicht komplett abgeschafft werden können.

Experte erwartet Gang ans Bundesgericht

Die Einschätzung von Felix Uhlmann zur Gratis-ÖV-Thematik hat Gewicht. Er fertigt derzeit im Auftrag des Bundesamts für Verkehr ein Gutachten zur Frage an, welchen Spielraum Bund, Kantone und Gemeinden haben. Damit dürfte jedoch nicht das letzte Wort gesprochen sein. «Alleine aufgrund der Menge an Initiativen ist damit zu rechnen, dass ein Komitee die Ungültigkeitserklärung der Vorlage anfechten wird und letztlich das Bundesgericht über die strittige Frage entscheiden muss», sagt Uhlmann.

Den ersten Schritt in diese Richtung gemacht haben die Initianten und Initiantinnen in der Stadt Bern. Sie legten letzte Woche beim Regierungsstatthalteramt gegen die Ungültigkeitserklärung Beschwerde ein.