Braucht’s obligatorisches Krankentaggeld? Nach überraschendem Nationalrats-Entscheid beginnt Seilziehen im Ständerat
Als «vielleicht grösste Lücke im Sozialversicherungssystem» ist das Problem schon bezeichnet worden. Trotzdem segelt die Frage nach einer obligatorischen Krankentaggeldversicherung (KTG) bislang deutlich unter dem Radar der Öffentlichkeit. Nicht einmal der Entscheid des Nationalrats vom letzten Herbst hat viel daran ändern können: Immerhin muss der Bundesrat gegen seinen Willen nun ein Obligatorium prüfen.
Doch worum geht es? Wird jemand krank, bezahlt die obligatorische Krankenversicherung die Heilungskosten. Bei einem Unfall die Unfallversicherung. Doch erkrankt jemand und ist er zugleich angestellt, kann eine längere Absenz im Job schnell teuer werden oder gar in die Armut führen.
Denn Lohnfortzahlung zu versichern, ist nur bei Unfall obligatorisch. Wer das Pech hat, bei einem Arbeitgeber ohne Gesamtarbeitsvertrag und damit ohne Pflicht zur längeren Lohnfortzahlung angestellt zu sein, kann bei Krankheit nur sicher sein, mindestens drei Wochen Geld zu erhalten – je nach Dauer der Anstellung auch länger. Danach bleibt schlimmstenfalls das Ersparte. Denn die Invalidenversicherung springt frühestens nach einem Jahr ein, in der Praxis aber meist nach jahrelangen Abklärungen.
Experten mahnen zum genauen Hinschauen
Doch immer mehr Selbstständige oder Kleinunternehmen bekunden Mühe, auf dem freien Markt noch eine Krankentaggeldversicherung abschliessen zu können. Das zeigte im Herbst eine«Kassensturz»-Recherchewie auch vergangenen Donnerstag ein RTS-Bericht.
In dieses Bild passt auch das Absageschreiben einer Versicherung an eine selbstständige Anwältin, das dieser Zeitung vorliegt: «Wir können den Versicherungsschutz nur gewährleisten, wenn der aktuelle Gesundheitszustand gut ist», drohten doch ansonsten Rückfälle. Sprich: Schlechte Risiken mag der freie Markt nicht versichern.
Auch zwei Dutzend namhafte Juristen wiesen Anfang Jahr auf Probleme bei der KTG hin. Sie baten die Gesundheitskommission des Ständerats (SGK-S), die von alt Nationalrat Marco Romano (Mitte/TI) eingebrachte Sachlage gründlich zu analysieren und insbesondere die «Auswirkungen der aktuellen Versicherungslücken bei Langzeiterkrankungen» zu klären.
Gewerbeverband weiss von nichts
Aufgrund «zahlreicher Dysfunktionen» sei der Handlungsbedarf offensichtlich. Nicht zuletzt deswegen lädt die SGK-S am Dienstag betroffene Kreise zum Hearing ein. Es wird dabei auch darum gehen, dass gewisse Betriebe – erst recht für Mitarbeitende über dem Pensionsalter – kaum noch eine Krankentaggeldversicherung abschliessen können.
Alexander Widmer von Pro Senectute Schweiz hat selber in seiner Organisation erfahren, dass Mitarbeitende mangels Versicherbarkeit nicht weiterbeschäftigt werden konnten. «Dies steht im Widerspruch zur demografischen und gesellschaftlichen Entwicklung.» Spätestens ab 70 ist es laut Widmer unmöglich, als Firma ältere Arbeitnehmende zu versichern.
Beim Gewerbeverband (SGV) zeigt sich Vizedirektor Kurt Gfeller überrascht: «Wir haben bisher keine Meldungen von Betrieben erhalten, die keine KTG-Versicherung mehr abschliessen können.» Kritik gebe es gelegentlich von Betrieben wegen Prämiensteigerungen nach grösseren Schadenfällen. «Das ist für die betroffenen Betriebe natürlich unschön», so Gfeller, gehöre aber zum System, das auf risikogerechten Prämien aufbaut. Der SGV ist darum gegen ein KTG-Obligatorium.
Branche setzt auf Freiwilligkeit
In dieselbe Kerbe haut auch der Versicherungsverband (SVV): «Die bestehende freiwillige Regelung funktioniert», argumentiert Thilo Kleine. Die Schweiz kenne zwei Lösungen der freiwilligen Krankentaggeldversicherung, eine nach dem obligatorischen Krankenversicherungsgesetz mit einem Prämienvolumen von 241 Millionen Franken. Und die andere nach dem privatwirtschaftlichen Versicherungsvertragsgesetz mit einem Volumen von 5 Milliarden Franken.
Eine über das gesetzliche Minimum hinausgehende Pflicht zur Lohnfortzahlung obligatorisch einzuführen, würde laut SVV «nicht die erhoffte Wirkung erzielen». Denn «aufgrund falscher Anreize» würde dies laut dem Versicherungsverband «den Trend der steigenden Kosten und Prämien nur verschärfen».
Damit sind die Fronten abgesteckt – so, wie sie auch morgen Dienstag in der Gesundheitskommission des Ständerats verlaufen dürften. Gespannt darf man sein, wie sich die Kommission nach der Anhörung positioniert: Schlägt sie sich auf die Seite des Bundesrats oder folgt sie dem Nationalrat?