Klein, aber fein: Japanisches Tiny House findet in Weil am Rhein ein neues Zuhause
Keine Klingel, dafür ein Paar Schuhe vor der Tür: Christian Germadnik ist schon da und öffnet auf ein Klopfen. Der Projektleiter bittet ins Umbrella House, den architektonischen Neuzugang auf dem Vitra Campus in Weil am Rhein. Drinnen: Holzdielen, gedämpftes Sonnenlicht, das durch Papierfenster fällt, Zedernduft und eine kühne Dachkonstruktion, die an den namensgebenden Schirm erinnert.
«Beim Aufbau dachten die Handwerker und der Statiker zuerst, wir seien verrückt», lacht Germadnik, Liegenschaftsverantwortlicher bei Vitra. Dabei hat sich das 55 Quadratmeter kleine Wohnhaus über 60 Jahre lang bewährt – und das in einer erdbebengeplagten Metropole.
1961 in einem einst ländlichen Vorort Tokios erbaut, sollte das ebenerdige Haus 2020 einem Strassenneubau weichen. «Ich war zufällig in der Stadt», erzählt Germadnik, der vom Sanaa-Architekturbüro auf das Gebäude aufmerksam gemacht worden war, worauf der ehemalige Vitra-CEO Rolf Fehlbaum sich einschaltete und eine Rettungsaktion startete.
Entworfen hat das Wohnhaus Kazuo Shinohara (1925–2006), einer der bedeutendsten japanischen Architekten des 20. Jahrhunderts, der sich in einer ersten Arbeitsphase mit traditionellen Bauformen und -techniken befasste. Es zählt zu Shinoharas kleinsten und letzten noch erhaltenen Häusern dieser Periode: «Denkmalschutz ist in Japan kein grosses Thema», erklärt Germadnik.
Im Suezkanal stecken geblieben
In zwei Containern wurden die abgebauten Elemente Richtung Europa verschickt – und blieben im Frühjahr 2021 erst einmal im Suezkanal stecken, zusammen mit dem verunglückten Frachter «Ever Given». Auch der neunmonatige Wiederaufbau in Weil gestaltete sich sperriger als geplant: Um deutschen Baunormen zu entsprechen, musste die Statik wiederholt geprüft werden.
«Das schwerste Element wiegt 200 Kilogramm», so Germadnik, «darin stecken die Dachsparren fest.» Was sich luftig aufspannt, ist mitnichten so traditionell, wie es für westliche Augen anmutet, das verraten schon die glänzenden Aluminiumplatten auf dem Dach. Aufgefangen wird das Gewicht von einem Holzständerbau, der durch seine komplexe Verzahnung beeindruckt, wie der Projektleiter schwärmt. Da kein Element länger als fünf Meter misst, erfolgte der Aufbau von Hand. «Nur für das Fundament haben wir einen Bagger verwendet.»
Das quadratische Haus selbst besteht aus einem repräsentativen Wohnraum und einem durch Schiebetüren abgetrennten Zimmer, in der die Familie des Auftraggebers schlief. Darin befand sich auch eine Grube für heisse Kohlen, um die sich die Bewohnerinnen und Bewohner im Winter lagerten. So umständlich die Wärme erzeugt wurde, so leicht verflüchtigte sie sich. «Energetische Überlegungen standen bei Shinohara nicht im Mittelpunkt», sagt Germadnik. In den Neunzigerjahren erlebte das Haus deshalb einige Umbauten, «man lebte nicht mehr mit den Jahreszeiten».
US-Steckdosen und dänisches Design
Nicht erhalten geblieben sind das einstige Plumpsklo und die in den Boden eingelassene Badewanne, die durch zeitgenössischere Sanitäranlagen ersetzt wurden. Original sind dagegen einige Möbelstücke wie Tisch und Sideboards, die ebenfalls vom Architekten entworfen wurden. Auch Trinkgläser und Papierleuchten in dänischem Design gehören zur ursprünglichen Ausstattung, ebenso die Steckdosen nach US-Norm sowie der kurvige 60er-Jahre-Kühlschrank. «Da wird der westliche Einfluss spürbar», so Germadnik.
Wurde seit dem Umzug schon einmal im japanischen Tiny House genächtigt, probehalber? Der Projektleiter verneint. Man man müsse zunächst herausfinden, wie viel Öffentlichkeit das Haus überhaupt vertrage. Und Vitra-Kommunikationschefin Johanna Hunder ergänzt, dass man sich kleinere Anlässe wie Meetings oder Teezeremonien vorstellen könne, abgesehen von einem offiziellen Eröffnungsakt im November stehe aber noch nicht viel mehr fest. Bis dahin dürfen Besucherinnen und Besucher auf Architekturführungen das Schmuckstück weiterhin nur von aussen bewundern: Die Schiebefenster stehen offen, Türe und Schnürsenkel bleiben aber zu.