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Eben noch Diktator, jetzt Hoffnungsträger: Die rechte «Weltwoche» huldigt dem linken Berset – was läuft da gerade?

«Zurücktreten!» hiess es noch vor kurzem. Doch seit sich SP-Bundespräsident Alain Berset als Gralshüter der Neutralität positioniert hat, wird er von rechts umarmt. Das könnte seine Karriere verlängern.

Mancher «Weltwoche»-Leser reibt sich die Augen. Als «Fels in der Brandung» wird Alain Berset in der Zeitung neuerdings gewürdigt, als «Kämpfer gegen den Mainstream» gepriesen. «Hoffnungsträger Berset» lautet eine Schlagzeile, und in der neusten Ausgabe des Wochenblatts von SVP-Nationalrat Roger Köppel beschreibt ein Bundeshausredaktor, wie sich Berset gerade neu erfinde. Der Titel: «Ein Mann kämpft sich zurück.»

Bis vor kurzem lauteten die Schlagzeilen noch ganz anders: «Bundesrat Berset am Ende?», fragte Verleger Köppel in einer einstündigen Internet-Sondersendung im Januar 2023. Dies, nachdem die «Schweiz am Wochenende» die Corona-Protokolle publik gemacht hatte, welche intensive Kontakte zwischen Berset und Ringier-Chef Marc Walder während der Pandemie dokumentierten. Wenige Tage später liess Köppel das Fragezeichen weg und verlangte offensiv Bersets Rücktritt. Andere SVP-Politiker schlossen sich seiner Forderung an.

Während der Pandemie gab es kaum eine «Weltwoche»-Ausgabe, in der Berset nicht für seine Massnahmen- und Impfpolitik kritisiert wurde. Nach dem Ende der Pandemie arbeitete das Blatt Bersets Rolle auf: «Die Impf-Lüge: Was wusste Alain Berset?», lautete eine Schlagzeile im vergangenen Oktober.

Vom «Diktator zum «Hüter der Traditionen»

Jetzt wird derselbe Bundesrat nicht mehr als «Virengeneral» und «Diktator» tituliert, sondern als «Hüter der Schweizer Traditionen». Am Ursprung dieser publizistischen Spitzkehre stehen Aussagen Bersets in «Le Temps» und in der «NZZ am Sonntag» vor zwei Monaten. «Ich spüre heute in gewissen Kreisen einen Kriegsrausch», sagte Berset und provozierte heftige, auch internationale Reaktionen – sowie Kritik vom eigenen Co-Parteichef Cédric Wermuth. Berset wurde vorgeworfen, er unterstelle allen, die der Ukraine mit Waffenlieferungen helfen wollten, im Rausch zu sein.

In dem Interview kam das Wort «Neutralität» neunmal vor. Einmal mit Ausrufezeichen: «Die Neutralität muss einen harten Kern bewahren!» Das war der Anfang des unerwarteten Flirts zwischen Köppel, der sich selbst als Putin-Versteher bezeichnet, und dem SP-Bundesrat. «Staatsmännisch» sei das Interview, sagte er.

Komplimente von rechts: «Weltwoche»-Text nach Alain Bersets Berlin-Besuch.
Screenshot weltwoche.ch

Berset ist anfällig für Schmeichelei. Er war gemäss Umfragen lange der beliebteste Bundesrat, fiel jüngst aber auf Platz drei zurück. Er leide etwas unter dem allgemeinen Liebesentzug und freue sich über die Anerkennung durch die «Weltwoche». Das heisst es aus seinem Umfeld. Der Flirt dauert an, intensiviert sich gar. Berset hält millimetergenau die neutralitätspolitisch reine Linie. Zu Besuch in Berlin bei Kanzler Scholz verteidigte er die Schweiz – «löblich», wie die «Weltwoche» vermerkte, die gleich drei Beiträge dazu publizierte. In einem anderen Text spricht sie ihm eine Wächterfunktion im Bundesratsgremium zu. Bersets «prüfende und streng urteilende Position» sei umso wichtiger, als Viola Amherd (Mitte) für Waffenexporte und Ignazio Cassis (FDP) nicht immer standfest seien.

Die Wirkungsmacht eines Begriffs

Berset, der gewiefte Stratege und Kommunikator, hat mit seinem neutralitätspolitischen Stunt die rechtsbürgerliche Presse (auch vom «Nebelspalter» gab’s Lob) und Teile der SVP für sich gewonnen. Und die mediale Agenda über die rechten Bubble-Medien hinaus verändert. Seine verbale Provokation hat Flug- und Liebesaffären und auch die Corona-Leaks aus den Schlagzeilen verbannt. Berset hat die Wirkungsmacht des Begriffs Neutralität richtig eingeschätzt.

Steckt mehr dahinter als eine Imagekorrektur in eigener Sache? Spekuliert Berset auf rechtsbürgerliche Stimmen für eine erneute Kandidatur? Sicher ist das nicht. Ob der dienstälteste Bundesrat im Dezember erneut antritt, ist unklar. Letzte Woche wich er der Frage der «SonntagsZeitung» aus, ob er sich der Wiederwahl stelle. Der 51-Jährige gibt sich zurückhaltender als noch vor der Leaks-Affäre. Da hat er dem «Blick» mitgeteilt: «Ich bin noch voller Energie und habe Lust, weiterzumachen!»

Womöglich ist der Wunsch mancher Rechtsbürgerlicher, Berset möge weitermachen, stärker als Bersets eigener Drang, seine Regierungskarriere zu verlängern. Denn die Neutralitätsfanatiker wissen: Nach Berset kanns nur schlechter kommen (mit einer eher unrealistischen Ausnahme: Daniel Jositsch).

«Hinter vorgehaltener Hand» würden «SVP-Schwergewichte» bereits erklären, dass Berset «im Bundesrat verbleiben sollte». Das stand, natürlich, in der «Weltwoche». Womöglich hofft Verleger Köppel, der aus dem Nationalrat zurücktritt, auf eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.