«Washington Post» enttarnt Leaker der Geheimpapiere
Der Urheber des massiven Datenlecks um Geheimdokumente in den USA soll nach Informationen der «Washington Post» auf einer Militärbasis gearbeitet haben. Ein junger Mann, der sich hinter den mysteriösen Buchstaben «OG» verberge, habe die brisanten Unterlagen zunächst als Abschriften mit einer von ihm geleiteten Chat-Gruppe auf der bei Videospielern beliebten Plattform Discord geteilt, schrieb das Blatt am Donnerstag. Die Zeitung beruft sich dabei unter anderem auf zwei Mitglieder der Gruppe, die sich aus rund zwei Dutzend jungen Leuten mit Vorliebe für Waffen und Militärausrüstung zusammengesetzt habe.
Seit Wochen kursieren im Internet offensichtlich geheime Dokumente von US-Stellen zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. US-Medien berichteten kurz vor Ostern erstmals über das Leck um dieses sensible Material zu beiden Kriegsparteien, ohne die Dokumente selbst zu veröffentlichen. Intensiv wird nach der Person gesucht, die diese Dokumente publiziert hat.
Die Chatgruppe ist nach Angaben der Mitglieder gegenüber der «Post» 2020 während der Corona-Pandemie gegründet worden. «OG», Anfang bis Mitte 20, wird als charismatischer Waffennarr mit düsteren Ansichten über die US-Regierung, die Strafverfolgungsbehörden und die Geheimdienste beschrieben. Andere in der Gruppe hätten ihn bewundert. «Er ist fit. Er ist stark. Er ist bewaffnet. Er ist trainiert. So ziemlich alles, was man von einem verrückten Film erwarten kann», sagte eines der Mitglieder der Gruppe. In einem von der «Post» gesichteten Video steht der als «OG» identifizierte Mann mit einem Gewehr an einem Schiessstand. Während er mehrere Schüsse auf ein Ziel abfeuerte, habe er rassistische und antisemitische Beleidigungen geschrien.
«OG» habe der Chat-Gruppe erzählt, dass er auf einem Militärstützpunkt – wo er arbeitete – an die Dokumente gelangt sei. Dort habe er laut eigener Darstellung auch Teile des Tages in einer abgesicherten Einrichtung verbracht, in der Mobiltelefone und andere elektronische Geräte verboten gewesen seien, mit denen Fotos oder Videos gemacht werden können. Daher habe er die Dokumente zunächst abgeschrieben. Über den gesamten Winter habe er so in der Gruppe seine Posts abgesetzt.
Als sich das als zu mühsam erwies, begann er laut der Zeitung, Bilder zuvor ausgedruckter Papiere zu posten – und ging dabei offensichtlich auch ein grosses Risiko ein, ertappt zu werden: Im Hintergrund einiger der Fotos, die «OG» den anderen per Video zeigte, waren demnach Möbelstücke und Gegenstände zu sehen, die die Fahnder auf seine Spur bringen könnten. Etwa auch eine Tube Klebstoff, Handbücher oder ein Nagelknipser.
Ähnlich beschreibt es das «Wall Street Journal». Zudem führten Drucker in abgesicherten US-Einrichtungen Protokolle der Ausdrucke, und manche der Unterlagen hätten unsichtbare Markierungen, um sie nachverfolgen zu können. Die Zeitung machte am Donnerstag allerdings auf einen anderen Punkt aufmerksam: Die Erzählung rund um Discord könne auch das Manöver eines raffinierten Gegners sein, um die Ermittler auf eine falsche Fährte zu lenken, schrieb das Blatt unter Berufung auf frühere Verteidigungsbeamte.
«Politico» warf in diesem Zusammenhang die Frage auf, wie es sein könne, dass die zuständigen US-Stellen erst im April auf die seit Monaten zirkulierenden Geheimpapiere aufmerksam geworden seien – als es erste Medienberichte dazu gab. «Dies deutet darauf hin, dass es online möglicherweise einen grossen blinden Fleck bei der Erfassung von Geheimdienstinformationen in den USA gibt», schrieb das Nachrichtenportal.
Mehr könnten die Ermittler womöglich von den beiden Chatgruppen-Nutzern erfahren, mit denen die «Post» sprach. Doch diese machten laut der Zeitung klar, dass sie zwar die echte Identität von «OG» und den Bundesstaat kennen, wo er lebe, aber nicht bereit seien, diese Information preiszugeben. Schliesslich seien sie so etwas wie eine Familie.
Mitte März habe «OG» aufgehört, Dokumente mit der Chat-Gruppe zu teilen, berichtete die «Washington Post» weiter. Grund war demnach, dass jemand aus dem Kreis – dem auch Nutzer aus Russland und der Ukraine angehört haben sollen -, Ende Februar Unterlagen in einer anderen Gruppe gepostet und somit das Geheimhaltungsgebot gebrochen hatte.
Anfang April, kurz bevor die «New York Times» über das Leck berichtete, habe «OG» verzweifelt gewirkt. «Er sagte, es sei etwas passiert und er bete zu Gott, dass dieses Ereignis nicht eintrete», zitierte die «Washington Post» eines der von ihr interviewten Mitglieder – einen Minderjährigen, dessen Mutter dafür dem Blatt ihre Erlaubnis geben musste.
Über die Motivation von «OG» gibt es kein vollständiges Bild. Feindselig gegenüber der US-Regierung sei er trotz seiner düsteren Ansichten nicht gewesen, hiess es. Er sei nach Überzeugung der Chat-Nutzer auch kein russischer oder ukrainischer Agent gewesen. Es sei aber auch nicht seine Absicht gewesen, Missstände aufzudecken: «Ich würde ihn nicht im Geringsten als Whistleblower bezeichnen», zitiert die Zeitung das eine Gruppen-Mitglied – vielmehr seien die brisanten Dokumente nur für seine Online-Familie gedacht gewesen. (dpa)