WTO setzt Patentschutz für Corona-Impfstoffe aus – Schweizer Pharmabranche: «Ein falsches Signal»
Nach mehrtägigen zähen Verhandlungen haben die 164 Mitgliedsländer der WTO erstmals seit Jahren wieder Abkommen unter Dach und Fach gebracht. Sie einigten sich am Freitag in Genf unter anderem darauf, die Herstellung von Covid-Impfstoffen in mehr Ländern zu ermöglichen. Konkret hat die Welthandelsorganisation einen Beschluss gefällt über die Vereinfachung von Zwangslizenzen für entsprechende Vakzine, wie das Eidgenössische Wirtschaftsdepartement (WBF) gleichentags mitteilt.
Lokale Unternehmen können nun in den nächsten fünf Jahren Hersteller von Impfstoffen dazu zwingen, ihre Patente offenzulegen. Davon sollen vor allem ärmere Regionen in der Welt profitieren. Reiche Länder wie beispielsweise die Schweiz verfügen derweil über so viele Impfdosen, dass sie Teile davon bereits vernichten mussten, weil sie abgelaufen sind.
Impfstoffe in Rekordzeit dank Patenschutz …
Ärmere Weltregionen dagegen hatten bislang das Nachsehen im Kampf um die begehrten Corona-Vakzine. So liegt die Impfquote in einigen Ländern aufgrund von fehlenden Impfstoffen derzeit noch immer unter 10 Prozent. Deshalb reichten Indien und Südafrika bereits im Oktober 2020 bei der Welthandelsorganisation eine Initiative zur befristeten Aufhebung von Covid-Patenten ein. Nun kommen die WTO-Mitgliedsländer dieser Forderung nach – zum Ärger der Schweizer Pharmabranche.
In einer Stellungnahme zeigt sich Interpharma über den Entscheid enttäuscht. «Damit wird ein gefährlicher Präzedenzfall für die Zukunft geschaffen», lässt der Verband der Schweizer Pharmaunternehmen am Freitag verlauten. «Für zukünftige Pandemien ist der Entscheid ein falsches Signal, denn damit wird der Forschung die Rechtssicherheit genommen.»
Dieser Ansicht ist auch der Wirtschaftsverband Science Industries, der die Interessen von Chemie, Pharma und Life Sciences in der Schweiz vertritt. Er spricht in einer Mitteilung von einem negativen Signal für Forschung und Innovation.
… oder Profit über Gerechtigkeit?
Interpharma ist der Ansicht, dass die Corona-Impfstoffe gerade deshalb in Rekordzeit entwickelt wurden, weil die Unternehmen von der Rechtssicherheit und den Ressourcen profitierten, die mit einem starken Patentschutz einhergingen. Doch nun stelle die WTO das geistige Eigentum «fälschlicherweise als Hindernis für die Pandemiebekämpfung dar», wie sich René Buholzer, Geschäftsführer des Pharmaverbandes, zitieren lässt.
Gegen die Aufweichung des Patentschutzes stellte sich nicht nur Interpharma, sondern auch die offizielle Schweiz oder Grossbritannien. Entsprechend erwähnt das Eidgenössische Wirtschaftsdepartement den Patent-Entscheid der Welthandelsorganisation in seiner Mitteilung zu weiteren WTO-Entscheiden lediglich beiläufig. Stattdessen legt das WBF den Fokus auf eine Erklärung zu Handel und Ernährungssicherheit oder ein Abkommen, welches schädliche Subventionen in der Fischerei bekämpfen soll. Gescheitert ist bei den Verhandlungen indes schliesslich eine geplante Vereinbarung über den internationalen Agrarhandel.
Erfolg für neue WTO-Chefin
«Sie reisen nicht mit leeren Händen nach Hause», sagte WTO-Chefin Ngozi Okonjo-Iweala zum Abschluss der Tagung, die schon am Mittwoch zu Ende gehen sollte. Mangels Einigung hatte die 68-Jährige auf eine Verlängerung gedrängt, weil sie ihre erste Ministertagung nicht als Flop akzeptieren wollte. «Die WTO hat demonstriert, dass sie in der Lage ist, auf die Herausforderungen unserer Zeit zu reagieren.»
Die ablehnende Haltung der Schweiz zu einer befristeten Lockerung des Patentschutzes führte im Vorfeld auch hierzulande zu Kritik. So monierte etwa die Nichtregierungsorganisation Public Eye, dass die Schweiz den Profit der hier ansässigen Pharmaindustrie höher bewerte als eine gerechte Verteilung der Impfstoffe in aller Welt. Sie organisierte auch eine von 20’000 Menschen unterzeichnete Petition.
Pharmaindustrie kritisiert schleppende Verimpfung
Zudem war immer wieder ins Feld geführt worden, dass für eine effektive Bekämpfung des Coronavirus auch Menschen in Schwellen- und Entwicklungsländern möglichst rasch und breit Zugang zur Impfung erhalten müssten. Gegner der Lockerung bezweifeln jedoch die Wirksamkeit der Massnahme. In den betroffenen Ländern würden auch die bereits erhaltenen Impfdosen nur schleppend verimpft.
Dass die auch dank dem Patentschutz so schnell entwickelten Impfungen bei der Bevölkerung ärmerer Länder nicht ankommen, habe strukturelle Gründe, heisst es etwa in der Mitteilung von Science Industries. «Etwa 780 Millionen Impfstoffdosen wurden aufgrund der eingeschränkten Infrastruktur bislang nicht verwendet und liegen in den Empfängerländern auf Lager.» Weiter weist Science Industries auf die tiefe Impfwilligkeit in den betroffenen Staaten hin und kritisiert die «fehlende Aufklärung der Bevölkerung über Gesundheitsrisiken».