«Wenn wir die AfD jetzt verbieten wollen, wird sie in zwei Jahren noch mehr Macht haben»
Deutschland steht noch immer unter Schock. Vergangene Woche führte eine Recherche des deutschen Recherchezentrums Correctiv zutage, dass Rechtsextreme, AfD- und CDU-Politiker sowie Wirtschaftsvertreter ein geheimes Treffen durchführten, um einen «Masterplan» für die deutsche Migrationspolitik zu schmieden.
Das Ziel dieses Plans: Millionen Menschen aus Deutschland zu vertreiben – egal, ob sie den deutschen Pass haben oder nicht. Die Kriterien, die darüber entscheiden, welche Menschen von der «Remigration» – wie es die Rechtsextremen nannten – betroffen wären, basieren auf Rassismus, Antisemitismus und Islamfeindlichkeit.
Zehntausende Menschen gingen deshalb in den letzten Tagen auf die Strasse und demonstrierten gegen Rechtsextremismus – und vor allem die AfD. Etwa in Berlin, Brandenburg, Freiburg, Köln, Frankfurt am Main, München und Potsdam, wo das Geheimtreffen stattfand. In vielen weiteren Städten sind noch bis Ende Monat weitere Demonstrationen geplant.
Was ist los in Deutschland? Wie ist das Land an diesem Punkt angelangt? Und sollte die AfD wirklich verboten werden, so wie dies viele Demonstrierende fordern? Antworten liefert Felix Neumann, Politikwissenschaftler mit Fokus auf Rechtsextremismus.
Hat Sie überrascht, was die Correctiv-Recherche ans Tageslicht geführt hat?
Felix Neumann: Ja und nein. Nein, weil bekannt ist, dass sich verschiedene Akteure der AfD regelmässig mit rechtsextremen Organisationen treffen und sich vernetzen. Was mich aber überrascht hat, ist erstens, wie hochrangig die AfD-Politiker und die weiteren Gäste waren, die an diesem Treffen teilnahmen. So etwa Martin Sellner, Chef der Identitären Bewegung. In der rechten deutschen Szene ist er sehr bekannt und hat viel zu sagen. Zweitens hat mich überrascht, dass an diesem Treffen ganz konkret über das Thema «Remigration» gesprochen wurde; dass man ganz klar versuchte, Pläne dafür zu entwickeln.
Felix Neumann ist Politologe mit Forschungsschwerpunkt auf Extremismusbekämpfung – sowohl von rechts wie links – als auch Terrorismusbekämpfung. Seit 2022 ist er in der Abteilung Internationale Politik und Sicherheit an der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin tätig. Die politische Stiftung mit Nähe zur deutschen Partei CDU ist in Deutschland, aber auch anderen Ländern aktiv und setzt sich für die Förderung und den Schutz von Demokratien ein.
«Remigration». Das klingt so harmlos. Wo kommt der Begriff eigentlich her?
Ja, Remigration ist eine sehr starke Verniedlichung, eine Abschwächung. Denn Remigration, wie sie die Rechten verstehen, bedeutet im Endeffekt Deportation. Und je nachdem, wer nach deren Ansicht unter die Menschen fallen würde, die «remigriert» würden, sprechen wir in Deutschland von mehreren Millionen Menschen, die nach Nordafrika oder – wie die Nazis das schon geplant haben – nach Madagaskar deportiert würden. Diese Abschwächung ist eine typische kommunikative Strategie der Rechten, die sich seit Jahrzehnten beobachten lässt.
Wie steht es innenpolitisch um Deutschland, dass ein solches Geheimtreffen überhaupt stattfinden konnte?
Ich glaube nicht, dass konkrete politische Entwicklungen zu genau diesem einzelnen Ereignis geführt haben. Am Geheimtreffen wollten sich rechte Kreise vernetzen. Sie wollten finanzielle Mittel akquirieren, um eine Art «alternatives Mediensystem» zu etablieren. Das heisst, sie wollten Influencerinnen und Influencer gross machen, damit sie ihre eigenen Narrative in der Medienlandschaft streuen können. Und sie wollten sich eben über Remigration austauschen. Dieses Treffen war also rein strategischer Natur. Was man aber sagen kann: Treffen, an denen sich rechtsextreme Kreise inklusive der AfD strategisch vernetzen, beobachten wir schon seit einigen Jahren zunehmend.
Und seit wann nehmen diese Vernetzungstreffen zu?
Seitdem die AfD 2013 aufgekommen ist. Seither können wir beobachten, wie rechtsextreme Vereine, Organisationen oder auch Privatpersonen versuchen, sich an die Partei dranzuhängen. Die Migrationskrise 2015 und die Corona-Pandemie haben diese Entwicklung noch befeuert.
Hat der Aufstieg der AfD den Rechtsextremismus in Deutschland also verstärkt oder ist es eher umgekehrt: Ist aus Rechtsextremismus die AfD entstanden?
Bei ihrer Gründung war die AFD eher eurokritisch. Da war definitiv noch nicht so viel Rechts und Rechtsextremismus drin, wie das heute der Fall ist. Doch die Partei hat über die Jahre immer mehr ihrer liberalen Vertreterinnen und Vertreter rausgeekelt oder rausgeworfen. Gleichzeitig nahm der rechte Flügel, etwa rund um Björn Höcke, zu. Die AfD ist also nicht aus Rechtsextremismus entstanden. Aber: Sie hat dafür gesorgt, dass sich die Sprache in den Medien, im Parlament, ja in ganz Deutschland verändert hat. Hass, Hetze, Schwarz-Weiss-Denken, Feindbilder – all das hat wegen der AfD zugenommen. Und das wiederum befördert einen gesellschaftlichen Wandel, der sich etwa in rechtsextremistisch motivierter Gewalt zeigt.
Zehntausende Menschen in ganz Deutschland formieren sich nun in Demonstrationen gegen Rechtsextremismus. Was können diese Demonstrationen bewirken?
Sie können auf jeden Fall ein Zeichen setzen. Denn tatsächlich stehen in Deutschland schätzungsweise nur etwa 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung hinter der AfD. Das heisst: 80 Prozent der Bevölkerung sind gegen die AfD. Aber wie so oft nimmt man im öffentlichen Diskurs immer nur jene wahr, die am lautesten schreien. Diejenigen, die die AfD nicht unterstützen, zeigen diese Ablehnung meist nicht aktiv. Mit den jetzigen Demonstrationen ist diese leise Mehrheit nun sichtbar. Für Betroffene von rechtsextrem motivierter Gewalt ist das ein bestärkendes Zeichen der Solidarität. Innen- und aussenpolitisch zeigt Deutschland so aber auch Haltung. Selbst aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten macht das Sinn. Denn Untersuchungen haben gezeigt: Je stärker die AfD in Deutschland zunimmt, desto unattraktiver wird unser Land für die Industrie.
Warum liegt der Fokus der Öffentlichkeit nach diesem Geheimtreffen so stark auf der AfD? Immerhin nahmen auch ein paar wenige CDU-Politiker, rechtsradikale Gruppierungen und bekannte Unternehmer daran teil.
Das liegt wahrscheinlich einerseits daran, dass die AfD als gewählte Partei im Bundestag sitzt und andererseits daran, dass von ihr das grösste Potenzial ausgeht, dass diese Ideen, die am Geheimtreffen ausgetauscht wurden, in die tatsächliche deutsche Politik einfliessen. Das bereitet vielen Menschen Sorgen.
Viele Demonstrierende fordern jetzt ein Verbot der AfD. Woher kommt diese Idee?
Deutschland ist eine sogenannte «wehrhafte Demokratie». Das heisst: Wegen der Erfahrungen, die wir mit Nationalsozialismus gemacht haben, haben wir rechtliche Möglichkeiten geschaffen, wie wir mit extremistischen Parteien umgehen können. Ein Verbot ist eine dieser Möglichkeiten, die im schlimmsten Fall genutzt werden muss. Deutschland hat erst zwei Mal eine Partei verboten. 1952 verbot man die Sozialistische Reichspartei (SRP) und 1956 die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD). Ein drittes Mal versuchte man es in den 2010ern bei der rechtsextremistischen NPD. Das klappte aber nicht.
Weshalb nicht?
Einerseits waren zu viele Vermittlungsmänner vom Verfassungsschutz in der Partei. Zum anderen dauerte das Verfahren sehr lange, was dazu führte, dass das Bundesverfassungsgericht die Rolle der NPD schliesslich als eher bedeutungslos im politischen Gefüge bewertete und sich gegen ein Verbot entschied.
Und was halten Sie von einem Verbot der AfD?
Es gibt sehr viele gute Argumente für ein AfD-Verbot. Einerseits gilt die AfD in einigen Bundesländern bereits als gesichert rechtsextremistisch. Andererseits geht von ihr eine wirkliche Gefahr für die Demokratie aus, weil sie einen starken Wähleranteil hat. Ich bin aber dennoch nicht dafür, dass man die AfD verbietet. Zumindest nicht jetzt.
Ist jetzt ein schlechter Zeitpunkt?
Ja. Durch den Prozess mit der NPD wissen wir, dass es einige Jahre dauern kann, bis ein Gericht ein Parteiverbot ausspricht. Würden wir den Prozess jetzt starten, könnte die AfD diese Tatsache zu ihren Gunsten an den bevorstehenden Landtagswahlen, an der Bundestagswahl und an den kleineren regionalen Wahlen nutzen. Sie könnte noch mehr in die Opferrolle schlüpfen, um ihre Argumente, die sie immer hatte, zu perfektionieren: «Wir sind die einzige Alternative für Deutschland. Wir sind die einzige Partei, die gegen das System ist, aber das System hat gemerkt: wir sind so stark, dass es uns verbieten muss.» Aus meiner Sicht würde das die Wahlerfolge der AfD befeuern und wäre alles andere als im Sinne einer Demokratie. Darum tendiere ich eher dazu, dass man das Parteiverbot nicht ganz vom Tisch nimmt, aber den Prozess zumindest jetzt nicht startet.
Gleichzeitig könnte man argumentieren: Wenn der Prozess jetzt gestartet würde, wäre die AfD in drei Jahren dafür höchstwahrscheinlich weg. Ausgeschlossen aus der Politik. Und zwar früher und nicht später.
Naja, aber die gewählten AfD-Politiker könnten dennoch ihre politischen Posten behalten, wenn sie aus der Partei austreten. Dann könnten sie einfach als Parteilose weitermachen. Oder es würde sich eine neue Partei gründen lassen, in die danach alle ehemaligen AfD-Politikerinnen und -Politiker eintreten. Wenn wir das durchdenken, heisst das also im Endeffekt: Wenn wir das Parteiverbot jetzt durchsetzen, werden die Vertreter der AfD in zwei Jahren mehr Macht haben, als wir wollen. Selbst wenn es die AfD dann offiziell nicht mehr geben würde. Das ist natürlich alles rein hypothetisch. Es könnte auch sein, dass das Parteiverbot ein grosser Erfolg sein würde, dass man die AfD nachhaltig zerschlagen kann. Weil wir nicht in die Zukunft sehen können, tendiere ich aber trotzdem zu einem Nein. Vorerst.