Wie künstliche Intelligenz die Betreuung von Angehörigen verbessern kann
Angehörige von älteren Menschen kennen die Sorge, gerade wenn die Eltern nicht in der Nähe leben: Merke ich am Telefon, wenn meine Mutter gebrechlicher wird und Hilfe im Alltag braucht? Was, wenn sich bei meinem Vater eine Demenz entwickelt, die er bei meinen Besuchen noch gut kaschieren kann? Auch professionelle Betreuungspersonen wissen, dass sie auf die Frage nach dem Befinden oft geschönte Antworten erhalten, oder dass Seniorinnen und Senioren eine schleichende Veränderung manchmal selbst nicht wahrnehmen.
Ein Forscherteam am «iHomeLab» der Hochschule Luzern hat deshalb im Rahmen eines Europäischen Forschungsprogramms die Internetanwendung «CleverGuard» entwickelt – gemeinsam mit Betreuungsfachpersonen und dem Zürcher Energiemessgeräte-Hersteller Clemap, in einem internationalen Team. Mit diesem System können kurz- und längerfristige Abweichungen von der Alltagsroutine mit Hilfe des Stromverbrauchs und von maschinellem Lernen leichter bemerkt werden.
Merken, wann ein Gespräch wichtig wird
Die Lösung basiert auf einer unscheinbaren kleinen Box, die auf Wunsch im Sicherungskasten angebracht wird und den Stromverbrauch auf Sekunden genau ablesen kann. Die Box leitet die Daten verschlüsselt an einen externen Server weiter. Der Projektpartner Clemap wertet diese Daten dann auf seinen Servern aus und speist die Ergebnisse in eine Webapp ein. Diese gestaltet daraus ein leicht lesbares Diagramm, das aufzeigt, ob und wann es im Verlauf des Tages Abweichungen vom Verhalten der letzten Zeit gab.
Andrew Paice,«Unsere Lösung dient dort am meisten, wo sich Menschen an der Schwelle vom aktiven Alter zum gebrechlichen Alter befinden.»
Professor an der Hochschule Luzern
Interpretationen liefert die App keine – vielmehr soll sie eine Gesprächsgrundlage für Angehörige und Betreuungspersonen anbieten. Denn vielleicht gibt es ja naheliegende Erklärungen für die Schwankungen des Stromerbrauchs: Etwa, weil die Olympiade zu Ende war und es keinen Anlass mehr gab, nachts Fernsehen zu schauen. Oder weil jemand hat ein GA gekauft hat und die Tage nun vermehrt für Ausflüge nützt. Vielleicht kommt man im Gespräch eben darauf, dass sich das körperliche oder psychische Befinden verändert hat.
Grenzen der Aussagekraft von Stromdaten
In einem Altersheim in Belgien zeigte sich, dass gerade die durch Clever Guard motivierten Gespräche der grosse Gewinn waren. Einige Bewohnerinnen und Bewohner hatten sich am Test der App beteiligt, waren aber trotzdem zunächst skeptisch. «Aha, Big Brother is watching you», bekam ein Betreuer schon mal zu hören, wenn er am Morgen bei jemandem vorbeischaute, dessen Stromverbrauchs-Diagramm eine markante Abweichung zeigte.
Mit der Zeit aber machten Bewohnende und Betreuende eine verblüffende Feststellung: «Die Gespräche erhielten mehr Tiefe, weil sie einen konkreten Anlass hatten und damit mehr Inhalt als ein allgemeines ‹wie gehts?›,» sagt Andrew Paice, der Leiter des «iHomeLabs» der Hochschule Luzern. Das erleichterte es, unabhängig vom Stromverbrauch, veränderte Bedürfnisse besser zu erkennen.
Verstehen, woran das Forschungszentrum in Horw arbeitet
Das «iHomeLab» ist das Forschungszentrum für Gebäudeintelligenz im Departement Technik & Architektur der Hochschule Luzern. Unter der Leitung von Professor Andrew Paice erforscht dort ein Team, wie dank intelligenten Gebäuden der Energieverbrauch gesenkt oder älteren Menschen ein längeres Leben in den eigenen vier Wänden ermöglicht werden kann. Über die Resultate der Forschungsprojekte erfährt man in einem Besucherzentrum auf dem Campus Horw im Rahmen von kostenlosen öffentlichen Führungen auf verständliche Weise mehr. (mam)
In der Schweiz wurde die App in einem anderen Umfeld getestet, wobei auch die Grenzen der App deutlich wurden. Partner war Vicino Luzern. Der Verein unterstützt ältere Menschen mit verschiedenen Angeboten in Luzerner Quartieren, damit sie möglichst lange selbstbestimmt und sicher zu Hause leben können. Vicino-Koordinator Fredy Blättler stellte indes fest: «Unsere Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren wohl zu aktiv – die Muster im Stromverbrauch waren nicht aussagekräftig, weil die Teilnehmenden als aktive Pensionierte jeden Tag anders gestalten.»
Sinnvoll bei teilselbständigem Wohnen
Auch dies ein wichtiger Erkenntnisgewinn im Forschungsprojekt: «CleverGuard dient dort am meisten, wo sich Menschen an der Schwelle vom aktiven Alter zum gebrechlichen Alter befinden», hält Andrew Paice der Leiter des iHomeLabs der Hochschule Luzern fest. Es gehe darum, längerfristige Veränderungen im Verhalten zu bemerken und genauer abzuklären, ob sie mit einem verschlechterten Gesundheitszustand zusammenhängen. Als Einsatzbereich sieht er zum Beispiel Heime, die ein teilweise selbständiges Wohnen ermöglichen.
Die Verwertungsrechte für eine Kommerzialisierung der Lösung liegen bei der Firma Clemap. «Es ist ein beispielhaftes Projekt, das zeigt, wie Smart-Meter-Stromdaten nicht nur im Hinblick auf den Bereich Energie, sondern auch in anderen Einsatzgebieten sinnvoll genutzt werden können», sagt Pascal Kienast von Clemap . Andrew Paice blickt bereits nach vorne: «Bei uns gibt es Ideen für weitere Forschungsprojekte zu dieser Technologie. Wir denken, dass ihre Möglichkeiten zur Verbesserung der Betreuung von Menschen im Alter noch nicht ausgeschöpft sind.» (pd)
Unterstützung oder Überwachung?
«Das entwickelte System darf sicher nur mit Einwilligung der betagten Person installiert und benutzt werden», sagt Andrew Paice, der Leiter des «iHomeLabs». Alle beteiligten Parteien müssten klar wissen, wer welche Daten sieht und was gemessen wird. Die Beteiligten sollten gemeinsam herausfinden, ob es eine Intervention braucht oder nicht.
«Bei der Entwicklung von Assistiven Systemen wird immer die Problematik der Unterstützung gegenüber der Überwachung thematisiert», sagt Paice. Bei der Entwicklung seien daher die verschiedenen Anspruchsgruppen mit einbezogen worden. (mam)