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Wo die Schweiz im Winter dunkel bleibt – Besuch in Emmetten

Ende Oktober bis Mitte Februar trifft Emmetten am Vierwaldstättersee auch bei bestem Wetter kein Sonnenstrahl. Nun kommt die Sonne bald wieder – dann werden Selfies verschickt.

Die Vorfreude bei Tamara Würsch ist gross. Mitte Februar erreichen die ersten Sonnenstrahlen für wenige Minuten ihr Zuhause in Emmetten NW. Die dreieinhalb Monate dauernde Sonnenabstinenz ist dann zu Ende. Für die 43-jährige Mutter mit sechs Kindern, darunter Vierlinge, ist es ein magischer Moment. Flugs steht sie jeweils auf dem Balkon. Einem Ritual folgend, sendet sie drei Kolleginnen im Dorf ein sonnenbeschienenes Selfie zu. Denn im Kreise dieser vier ist sie im westlichen Dorfteil unterhalb der Rotifluh die erste, die wieder von der Sonne geküsst wird. Der langen Schattenzeit zuvor kann sie aber auch Gutes abgewinnen: «Unser Dorf ist recht schneesicher. Beim Schlitteln und Skifahren kann ich dafür oftmals bis vor die Haustüre fahren.»

Wo im Winter kein Sonnenstrahl hinkommt – aber der Schattenfleck wird von Tag zu Tag kleiner. Die Gemeinde Emmetten fotografiert vom Berggasthaus Niederbauen aus.
Bild: Boris Bürgisser 29.1.2025) / CH Media

Ähnlich geht es der Seniorin Erna Hofmann, 75, die oft im Postauto nach Buochs oder Seelisberg fährt, um Sonne zu tanken. «Mein Mann ruft mich immer, wenn der erste Sonnenstrahl nach drei Monaten Ende Februar in die Stube trifft», sagt sie mit einem Augenzwinkern im Dorfzentrum.

Emmetten liegt am Vierwaldstättersee in der Nähe von Beckenried, nordseitig auf einer voralpinen Terrasse. Unten der glitzernde See, oben das sonnige Skigebiet Klewenalp-Stockhütte, dazwischen das Dorf am schattigen Hang.

Anton Mathis, Gemeindepräsident Emmetten.
Bild: René Fuchs

Obwohl ein Schattendorf im Winter, ist Emmetten seit 1970 um 260 Prozent auf 1642 Einwohner gewachsen. Gemeindepräsident Anton Mathis, 57, erklärt, Emmetten sei eben durch die A2 auch für Pendler gut erreichbar. «Andererseits sind viele Ferienwohnungsbesitzer aus der Region Basel und dem Aargau hier sesshaft geworden», berichtet er. Die Aussicht auf den Vierwaldstättersee ist ein grosser Pluspunkt – die Sonne ist zumindest in der Ferne oft sichtbar.

Fünf Seilbahnen führen hinauf zur Sonne

Doch wie lebt es sich am Fuss des Schattigenstocks (1396 m ü. M.) während einer dreieinhalbmonatigen Sonnenabstinenz von Ende Oktober bis Mitte Februar? Kein Wunder, gibt es in Emmetten gleich fünf Seilbahnen aus dem Dorf hinauf an die Sonne. «Die Menschen zieht es in die Höhe», lacht Mathis. «Nirgends auf der Welt gibt es fünf konzessionierte Personentransportbahnen innerhalb von 500 Metern.» Skifahren, Schneeschuhlaufen und Spaziergänge an der Sonne helfen, die schattigen Zeiten im Dorf zu meistern. Rund 40 Prozent der Einwohner haben eine Jahreskarte.

Tamara Würsch geniesst die ersten Sonnenstrahlen – nach drei Monaten Schatten auf ihrer Terrasse.
Bild: zvg

Ein- bis zweimal pro Woche ist auch die quirlige Familienfrau Tamara Würsch beim Wintersport hoch über Emmetten anzutreffen. «Ich habe dann sprichwörtlich die Sonne nicht nur im Herzen», lacht sie.

Von Kindesbeinen an ist sich Andreas Näpflin, 71, pensionierter Mechaniker, die sonnenlose Winterzeit in Emmetten gewohnt. «Von Natur aus bin ich ein fröhlicher Mensch. Ich kann mit der schattigen Zeit gut umgehen.» Doch wenn der erste Sonnenstrahl frühestens am 23. Februar ihn draussen vor dem Haus trifft, geht auch ihm eine wohlige Wärme durch den Körper.

Andreas Näpflin vor einer Schneemade – die lange nicht von der Sonne geschmolzen wird.
Bild: René Fuchs

Schattige Zeiten im Winterhalbjahr kennen auch viele andere Schweizer Gemeinden. Orts- und Flurbezeichnungen wie Schattenhalb BE, Schattensätteli OW, Schattenberg OW, Schattenwald AI oder das Schattengässchen in der Altstadt St. Gallen haben ihren Ursprung darin. Längere sonnenlose Perioden gibt es speziell in engen Bergtälern, die von Ost nach West ausgerichtet sind. Das Bergell ist ein klassisches Beispiel dafür. In Vicosoprano gibt es etwa von Mitte November bis Ende Januar keine Sonneneinstrahlung.


Es gibt viele Schattenlöcher in der Schweiz

Im Dezember und Januar zählen in der Schweiz auch Leissigen BE, Iseltwald BE, Agarn VS, Bovernier VS, Brig-Glis VS, Erstfeld UR, Giornico TI, Sils im Domleschg GR zu den Gemeinden mit der kleinsten «potenziellen Sonnenstundenanzahl» gemäss Meteo Schweiz. Das bedeutet: Selbst wenn immer schönes Wetter wäre, hätten sie total weniger als 60 Sonnenstunden im Dezember und 75 im Januar. «Innerhalb eines Gemeindegebietes kann es auch sein, dass die Sonnenstrahlen in diesen zwei Wintermonaten gewisse Orte gar nie erreichen können», sagt Julien Anet, Klimatologe von Meteo Schweiz. Auf der Übersichtskarte von Meteo Schweiz werden zudem nur Gemeinden mit einer Fläche grösser als 7,4 Quadratkilometer angezeigt.

Um einen Blick auf den Schattenwurf in der eigenen Gemeinde zu werfen, ist die kostenlose Website «ShadeMap»ideal.

Aktuell liegt Emmetten (blaue Nadel) am Mittag weitestgehend im Schatten. Unten links ist Beckenried besonnt.
Bild: shademap.app