Sie sind hier: Home > zttalk > «Wir kommen gar nicht mehr dazu, uns fokussiert und konzentriert mit etwas zu beschäftigen»

«Wir kommen gar nicht mehr dazu, uns fokussiert und konzentriert mit etwas zu beschäftigen»

Der ständige Griff zum Handy macht uns zwar nicht hohl, sagt der Cyber-Anthropologe und Digital-Trainer Daniel Kunzelmann. Aber wer sich ständiger Reizüberflutung aussetzt, verliert Energie und die Fähigkeit zur Fokussierung. Im zt Talk sagt Kunzelmann, was Facebook, Instagram, Tiktok & Co. wirklich mit uns machen – und welche Gegenstrategien es gibt, der Aufmerksamkeitsfalle zu entgehen.

 

Daniel Kunzelmann ist promovierter Kulturwissenschaftler, Fellow am Swiss Institute for Global Affairs und ausgebildeter Trainer für digitale Medien. Seit 2013 lehrt und forscht er an der Universität Basel. Er gibt wissenschaftlich fundierte und anwendungsorientierte Trainings rund um die Themen Stress, Resilienz, Zeitkompetenz und Selbstmanagement. Sein aktueller Forschungsschwerpunkt liegt auf den negativen Auswirkungen der Digitalisierung auf unsere Zufriedenheit, unser Wohlbefinden und unsere Produktivität.

«Wir kennen das Gefühl: Wir sitzen den ganzen Tag vor dem Bildschirm. Am Abend sind wir müde und haben das Gefühl: Was haben wir eigentlich geschafft?» Dieses Gefühl komme zustande, weil wir von einem Reiz zum nächsten Reiz springen. Hohl mache uns dieses Phänomen nicht. Aber es entstehe eine Form der Dispersion: «Unsere Aufmerksamkeit wandert vom einen zum anderen und wieder zurück. Wir haben dadurch grosse Probleme, uns zu fokussieren, also bei einem Ding zu bleiben», sagt Kunzelmann.  

Er zitiert eine Studie der Universität Bonn. Sie ging der Frage nach, wie oft wir im Durchschnitt unser Smartphone entsperren. Resultat: «88 Mal im Tag entsperren wir im Durchschnitt unser Handy.» Wenn wir 16 Stunden wach sind, machen wir das also alle elf Minuten einmal. Gemäss einer anderen Studie brauchen Menschen 15 Minuten, um wieder in eine Flow-Phase zu kommen. «Also in eine fokussierte, konzentrierte Arbeitsphase, in der wir ganz bei den Dingen sind.» – «Jetzt können wir rechnen: Wenn wir alle elf Minuten unterbrochen werden, aber 15 Minuten brauchen, um uns konzentriert und fokussiert mit etwas zu beschäftigen, dann heisst das doch: Wir kommen gar nicht mehr dazu, uns mit etwas fokussiert und konzentriert zu beschäftigen.»

Soziale Medien wie Facebook, Instagram Tiktok & Co. seien ausgesprochen machtvoll. «All das, was sie mit uns und in uns verursachen, ist natürlich kein Zufall, sondern es ist bewusst geplant und gemacht.» Ein wichtiges Stichwort ist Dopamin, dessen Ausschüttung für ein gutes Gefühl sorgt, wenn wir beispielsweise durch Instagram scrollen. Die sozialen Medien tun alles, um uns auf ihren Plattformen zu halten. «Sie wollen wissen, was wir tun, welche Dinge wir mögen und was wir nicht mögen – um uns dann entsprechend Dinge zu verkaufen.»

Viele Menschen haben das Gefühl, dass ihre Zeit vergeht, ohne dass sie eigentlich wirklich etwas getan haben. Ein zentraler Faktor beim Zeitmanagement sei die Priorisierung, sagt Kunzelmann. Wer aber immer in der Aufmerksamkeitsfalle gefangen ist, kommt gar nicht erst dazu, sich überhaupt erst fokussiert um Priorisierung zu kümmern. Was heisst das konkret? «Machen Sie Ihr Mail-Programm zu und stellen sie alle Benachrichtigungen ab. Das ist der erste Schritt. Dann stellen Sie sich die Frage: Wann möchten Sie Nachrichten erhalten? Wann möchten Sie sich Zeit nehmen, um Nachrichten zu schreiben?» Eine andere Strategie ist «Digital Detox»: Vier bis sechs Wochen ohne digitale Medien. «Ich habe das gemacht. Die ersten beiden Tage fühlt sich das wie ein kalter Entzug an. Man fragt sich ständig: Wo ist dieses Ding?» Nach einigen Wochen hat sich das kognitive System daran gewöhnt, dass der Sog der Reize verschwunden ist. «Dann merken wir: Es geht auch anders.» Die Philosophie dahinter lautet «digitaler Minimalismus»: Nach einer radikalen Auszeit benutzt man wieder jene Dinge, die man wirklich vermisst hat – soziale Medien gehören eher nicht dazu.

«Das Smartphone ist in der Regel das erste Objekt, das wir morgens in die Hand nehmen und das letzte Objekt, das wir abends aus der Hand lassen.» Das saugt uns letztlich aus und kostet Energie. «Wieder Energie kriegen wir dann, wenn diese Dinger weglegen. Und uns nicht von ganz früh bis ganz spät damit beschäftigen, was in der Welt passiert – sondern wieder mehr in uns gehen.»

 

Schreiben Sie einen Kommentar