Schwellenländer fordern Aufhebung des Patentschutzes für Corona-Impfungen – warum sich die Schweiz dagegen wehrt
Noch nie zuvor wurden Impfstoffe so schnell entwickelt, wie jüngst gegen das Coronavirus. Davon profitiert hat jedoch zunächst vor allem die Bevölkerung in den reichen Industrieländern. Die ärmeren Regionen der Welt mussten hintenanstehen. Noch heute liegt die Impfquote mancherorts unter 10 Prozent – zum Beispiel in Nigeria (9,7) oder Tansania (6,6).
An der Frage, wie eine solche Situation hätte verhindert werden können, scheiden sich die Geister. Dies zeigt sich derzeit anlässlich der Zusammenkunft der Welthandelsorganisation WTO. Die 164 Mitgliedsländer tagen seit Sonntag in Genf und beraten unter anderem über eine im Oktober 2020 eingereichte Initiative von Indien und Südafrika.
Die beiden Schwellenländer fordern eine vorübergehende Aufhebung der geistigen Eigentumsrechte für alle Produkte, die bei der Eindämmung der Coronapandemie hilfreich sein könnten. Konkret würde dies bedeuten, dass lokale Unternehmen Impfstoffe, Tests oder Behandlungen herstellen dürften, ohne eine Lizenz aushandeln zu müssen. Mehr als 100 Länder haben ihre Unterstützung signalisiert, weil sie sich erhoffen, dass die Weltbevölkerung so schneller medizinisch versorgt werden könnte.
Pharma befürchtet Präzedenzfall
Die Schweiz dagegen stellt sich wie Grossbritannien an vorderster Front gegen das Vorhaben. Diskutiert wird in Genf darum auch über einen Kompromiss-Text, der sich einzig auf Impfstoffe beschränkt und den Regierungen die Aufhebung des Patentschutzes nur unter bestimmten Bedingungen ermöglichen will. Aus den USA und der EU gibt es dafür Unterstützung.
Die Position der Schweiz wirft Fragen auf: Wäre es nicht auch in ihrem Interesse, die Pandemie weltweit einzudämmen und gefährliche Mutationen aktiv zu bekämpfen? Immerhin sind hier ansässige Pharmafirmen wie Roche oder Novartis zumindest vom Kompromiss-Vorschlag nicht direkt betroffen, da sie keinen Corona-Impfstoff herstellen.
Samuel Lanz vom Verband der Schweizer Pharmaunternehmen Interpharma sagt dazu: «Eine Lockerung des Patentschutzes würde einen Präzedenzfall schaffen und die Forschung schwächen. Das kann in einer zukünftigen Pandemie schwerwiegende Folgen haben.» Der Schutz des geistigen Eigentums sei Voraussetzung für Kooperation und ermögliche damit die schnelle Entwicklung einer Impfung. Für Lanz steht fest: «Der Patentschutz ist nicht die Ursache von Übel, sondern Teil der Lösung. Das hat die rasche Entwicklung des Corona-Impfstoffs bewiesen.»
NGO prangert Profitdenken an
Auch die offizielle Schweiz will «bewährte internationale Regeln» nicht in Frage stellen, wie es in der Stellungnahme zur WTO-Initiative heisst. Laut dem Eidgenössischen Institut für Geistiges Eigentum hätte eine Annahme überdies Konsequenzen für zukünftige Pandemien: «Würde jetzt signalisiert, dass in Krisenfällen der geltende internationale Rahmen einfach ausser Kraft gesetzt wird, so könnte das schwerwiegende Auswirkungen auf die künftigen Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten von Privatunternehmen haben, die auch für die gesundheitlichen Herausforderungen und Krankheiten der Zukunft wichtig sind.»
Diese Ansicht teilt Patrick Durisch von der Nichtregierungsorganisation Public Eye nicht. Er glaubt, dass die Haltung der Schweiz dem Lobbying der Wirtschaft geschuldet sei: «Der Profit der Pharmaindustrie wird über eine gerechte Verteilung der Impfstoffe gestellt.» Dies sei auch für die Schweiz ein schlechtes Kalkül, so der Experte für Gesundheitspolitik. «Wird die Bevölkerung in einigen Weltregionen lange nicht geimpft, ist die Gefahr von Mutationen grösser, gegen welche die geimpften Schweizerinnen und Schweizer keinen Schutz mehr haben.»
Wie die Pharmabranche befürchtet Durisch ebenfalls einen Präzedenzfall – dies im Fall eines Scheiterns der WTO-Initiative oder der Annahme des «verwässerten» Kompromiss-Vorschlags. «Wenn es eine neue Pandemie gibt, wird man sagen, dass die Frage des Patentschutzes bereits verhandelt wurde und damit die Diskussion beenden wollen.»
Ob und in welcher Form es in Genf zu einer Einigung kommt, wird sich bis zum Ende der Konferenz am Mittwochabend zeigen. Entschieden wird auf der Basis von Konsens. Das heisst, dass sich zumindest kein Mitgliedsland mehr aktiv mit einem Veto gegen ein Übereinkommen wehren darf. Das macht grosse Veränderungen unwahrscheinlich.