«Habe nur noch geweint» – neue Eigentümer stellen 105 Mietparteien auf die Strasse
Wer in Zürich auf bezahlbare Mietwohnungen angewiesen ist, der braucht bei der Suche einen langen Atem. Doch genau das haben die 105 Mietparteien an der Zürcher Neugasse 81, 83 und 85 nicht: Am Dienstag erhielten alle die Wohnungskündigung – mit einer Frist von drei Monaten. Betroffen sind weit über 200 Menschen, die bis am 31. März 2025 ihr Zuhause verlassen müssen.
In dem Kündigungsschreiben, das watson vorliegt, begründet die Verwaltung Allgood Property AG, dass dies dem Wunsch der neuen Eigentümerschaft entspreche. Diese habe die drei 1995 erstellten Liegenschaften einschätzen lassen und sei zum Schluss gekommen, dass eine Totalsanierung nötig sei. Für eine «nachhaltige und ökologische Zukunft».
Konkret sollen alte Küchen und Bäder saniert werden, aber auch Leitungen ausgewechselt und Wände, Böden sowie das Treppenhaus erneuert werden. «Hinsichtlich der umfangreichen Arbeiten ist ein Verbleib der Mietenden während der Renovation nicht möglich», schreibt die Verwaltung im Kündigungsschreiben. Den gekündigten Mietenden wünscht die Verwaltung, dass sie «schnell ein neues Zuhause finden».
«Sanierung nicht nötig»
Für die Mieterinnen und Mieter an der Neugasse kam die Kündigung unerwartet. Als sie im September erstmals über die geplanten Sanierungen und anstehenden Mietzinserhöhungen von 10 Prozent informiert wurden, hiess es noch: «Wir hoffen, dass Sie uns als Mieterin oder Mieter auch in Zukunft erhalten bleiben und wir weiter ein grossartiges Mietverhältnis pflegen». watson liegt das Schreiben vor.
Das Mietverhältnis war so grossartig, dass nun allen 105 Mietparteien gekündigt wurde. Eine betroffene Mieterin ist Sandra W.* Ihr ging es nach der Kündigung «nur noch schlecht», wie sie zu watson sagt. Die alleinerziehende Mutter von zwei Kindern (12 und 14 Jahre alt) wohnt seit Frühling 2022 in einer 4.5-Zimmer-Wohnung, die 2084 Franken kostet. Damals endete für sie eine jahrelange Odyssee nach einer Wohnung, in der ihre zwei Kinder sich nicht ein Zimmer teilen mussten.
Drei Jahre später soll nun alles schon wieder vorbei sein. Doch das lässt sich Sandra nicht gefallen. Sie sagt: «Ich werde die Kündigung sicher anfechten, wie die meisten anderen Mietenden an der Neugasse.» Doch auch, wenn sie noch ein Jahr länger bleiben können, sei das nur ein schwacher Trost. Besonders stört sie, dass sie von der «Verwaltung im September belogen» wurde, dass man sie als Mieterin behalten wolle. Sie findet auch, dass die Küche oder das Bad überhaupt nicht sanierungsbedürftig seien.
Die Wohnsiedlung an der Zürcher Neugasse hat den Übernamen «Sugus-Häuser» und gilt seit der Erstellung als gutes Beispiel für bezahlbaren Wohnraum im Zentrum.
Schon seit 25 Jahren wohnt Karin Athanasiou an der Neugasse. «Ich habe nur noch geweint, als ich von der Kündigung erfahren habe. Auch meine zwei Kinder haben geweint, weil sie das Zuhause verlieren, in dem sie grossgeworden sind», sagt die alleinerziehende Mutter zu watson. Ihre Kinder seien zum Glück schon 19 und 22 Jahre alt, aber es sei trotzdem schlimm, nun innerhalb von drei Monaten auf die Strasse gestellt zu werden. Auch Athanasiou gibt an, die Kündigung anfechten zu wollen.
Dasselbe hat Dennis Rastbichler vor, der ebenfalls seit 25 Jahren in seiner Wohnung an der Neugasse lebt. «Die Kündigungsfrist von drei Monaten ist unmenschlich. Es ist gar nicht möglich, in dieser Zeit eine bezahlbare Wohnung in der Nähe zu finden», sagt er. Zudem sei er der Meinung, dass die Liegenschaft nicht «total-sanierungsbedürftig» sei, wie von der Verwaltung behauptet. «Sie wollen eine maximale Rendite, das ist alles. Wohnungen für einfache Menschen will in der Stadt Zürich offenbar niemand mehr realisieren», sagt er. Nun hoffe er, dass eine Genossenschaft ihn aufnehme.
Eine neue Wohnung zu finden, bereitet auch Sasomsri Sakol Sorgen. Der Koch lebt in einer 1.5-Zimmer-Wohnung an der Neugasse für 1070 Franken und arbeitet ganz in der Nähe. «Ich muss nun in drei Monaten eine Wohnung in der Gegend suchen, während über 200 Menschen dasselbe machen. Es ist praktisch unmöglich», sagt er. Eine andere Mieterin, die anonym bleiben möchte, hat nach der Kündigung telefonisch das Gespräch mit der Verwaltung gesucht. «Ich war total geschockt und habe gehofft, es lässt sich etwas machen. Doch die Verwaltung hat mich nur gefragt, ob ich nicht dasselbe machen würde, wenn ich so eine Liegenschaft erben würde.»
Keine Fragen beantwortet
Bereits einige sorgenvolle Telefonate hat heute der Mieterinnen- und Mieterverband Zürich erhalten. Mediensprecher Walter Angst sagt zu watson, dass der Verband den Mietenden helfen werde, die Kündigungen anzufechten. «Wir werden ein Gruppenmandat machen und gegen dieses kurzfristige und kurzsichtige Handeln der Eigentümer vorgehen.» Auch Angst stört sich darüber, dass man den Mietenden unterschiedliche Signale gesendet habe, dass sie zunächst in der Wohnung bleiben dürfen und dann plötzlich doch herausmüssen.
Als watson die Verwaltung telefonisch angefragt hat, verwies diese direkt auf dieStellungnahme auf der Website. Weitere Fragen würden nicht beantwortet. Auf der Website wird nochmals darauf hingewiesen, dass die «Wohnsituation nicht mehr zumutbar» sei und eine «Kernsanierung erforderlich» sei. Die Kündigungen seien «unumgänglich».