Sind soziale Medien antidemokratisch oder eine Waffe für die Freiheit? «Langhaarige Boomer» und Iranerinnen sind sich uneins
Menschen, die sich in den sozialen Medien bewegen, wissen, dass ihnen da manchmal Ressentiments begegnen. Menschen, die sich nicht in den sozialen Medien bewegen, glauben zu wissen, dass diesen prinzipiell mit Ressentiment zu begegnen ist.
Jürgen Habermas zum Beispiel, 93, zweifelsohne einer der bedeutendsten zeitgenössischen Philosophen, zieht in einem eben erschienenen Essay über die sozialen Medien her, die er viel mehr vom Hörensagen als aus eigener Erfahrung kennt. Zumindest ist er nie als lebhafter Teilnehmer in Twitter-Diskussionen aufgefallen und weder ein Instagram- noch ein Tiktok-Profil konnten in einer Recherche ausfindig gemacht werden. In «Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik» legt er dar, warum er in den sozialen Medien eine Gefahr für die Demokratie sieht.
Precht und Welzer sehen in den sozialen Medien eine «Kultur der Assholery»
Auch der Philosoph Richard David Precht und der Sozialpsychologe Harald Welzer sind nicht Teil der Social-Media-Community, nehmen aber mit ihrem gemeinsamen Buch «Die vierte Gewalt» an der Abrechnung mit Twitter und Co. teil.
Für sie herrscht in den sozialen Medien grundsätzlich eine «Kultur der Assholery». In ihrer Anklageschrift heften sich die beiden «langhaarigen Boomer» (NZZ) an den Rockzipfel Habermas, schreiben viel von «der deliberativen Öffentlichkeit» und beklagen, dass die Gesellschaft in zahlreiche Echokammern zerfällt.
Nun, man kann und soll die sozialen Medien kritisieren, tut aber gut daran, sich nicht nur auf philosophische Grosstheorien wie Habermas‘ «Strukturwandel der Öffentlichkeit» zu beziehen, deren Erscheinen bereits 60 Jahre zurückliegt, sondern auch die Internettheoretiker genau zu lesen. Dann merkt man, dass die Theorie der «Filter Bubble» (Echokammer) von Eli Pariser auch zahlreichen Widerspruch hervorgerufen hat und sich mit ihr die Problematik der sozialen Medien nur unzureichend erklären lässt.
Zurück mit Twitter zur griechischen Polis
Man wäre auch gut beraten, Medienwissenschafter Evegny Morozov zu lesen, der in «The Net Delusion» die Machtverhältnisse im Internet bis in die tiefsten Verästelungen erörtert, die Problematik der sozialen Medien klar aufzeichnet, sie aber nicht einfach abkanzelt, sondern die Twitter-Debatten mit seinen knapp hunderttausend Followern auch mitprägt.
Es ist schon so, dass die sozialen Medien nicht nach der Habermaschen Logik des «herrschaftsfreien Diskurses» funktionieren, gemäss der das beste Argument am meisten Gehör findet. Doch sie deswegen als Gefahr für die Demokratie zu brandmarken, ist arg einfach. Zumal die sozialen Medien eine wichtige Voraussetzung dieses Ideal-Diskurses beinhalten, die seit der griechischen Polis verloren gegangen ist: Jeder kann sich (zumindest theoretisch) an alle richten. Es gibt keine Gatekeeper, die bestimmen, was Teil des Diskurses ist und was nicht.
In China und im Iran sieht in den sozialen Medien niemand eine Gefahr für die Demokratie
Spätestens hier zeigt sich auch, dass die Rede von der Gefahr der sozialen Medien für die Demokratie eine sehr eurozentristische ist. Wer in China lebt, sehnt sich nach ungefilterten sozialen Medien, nimmt dafür auch gern ein paar Trolle in Kauf. Niemand sieht in ihnen dort eine Gefahr für die Demokratie. Sie sind eine Gefahr für die kommunistische Regierung und werden deshalb unterdrückt.
Dasselbe passiert dieser Tage im Iran. Um die Demonstrierenden auf der Strasse in die Schranken zu weisen, schaltet die Regierung das Internet ab, zensiert oder kontrolliert die sozialen Medien.
«Die einzige Waffe», schreibt die deutsch-iranische Journalistin Natalie Amiri, «ist das Internet.»