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AHV-Reform: Für die SP ist diese Niederlage wie ein Sieg

Die Sozialdemokraten hatten einen schwarzen Sonntag befürchtet: Ein klares Ja zur AHV-Reform wäre ein miserables Signal für das Wahljahr gewesen. Nach dem knappen Resultat schöpft die Partei Hoffnung: Sozialpolitische Themen könnten wichtiger werden.  

Fröhliche Mienen sah man keine kurz vor Sonntagmittag im Kulturzentrum Progr in Bern. Gewerkschafter und Sozialdemokratinnen versammelten sich, und die Anspannung war mit Händen zu greifen.

Letzte Umfragen deuteten auf ein klares Ja zur AHV-Reform hin. 60 Prozent schienen möglich. Und die Teilreform der Verrechnungssteuer, sie könnte knapp durchkommen. Es wäre schlimm für die SP. Die Partei verliert eine kantonale Wahl nach der anderen – und nun soll sie auch an einem wichtigen Abstimmungssonntag abstürzen, ein Jahr vor den nationalen Wahlen? Ein schlechteres Signal für das linke Lager kann man sich nicht vorstellen.

Die Niederlage erfüllt die meisten mit Freude

Plötzlich Jubelschreie aus der Mitte des Raumes. Eine Gewerkschafterin aus dem Waadtland zeigt ein Handy in der Runde ihrer Kolleginnen herum: In Vevey ist die AHV-Reform abgeschmiert. «On est là», singen die Frauen jetzt, «on est là.»

SP-Co-Präsident Cédric Wermuth hatte sich in einer Ecke des Saales versteckt. Jetzt schreitet er durch den Raum, klopft einer Parteikollegin auf die Schultern, scherzt über die Journalisten, von denen die meisten eine grünliberale Brille trügen und darum leider nicht merkten, was los sei im Volk.

Die dunklen Ahnungen weichen Freude. Das Resultat ist sehr knapp. Die Stimmberechtigten sagen zwar Ja zur AHV-Reform – aber die SP und die Grünen haben 49,5 Prozent auf ihrer Seite. Pierre-Yves Maillard, SP-Nationalrat und Gewerkschaftspräsident, baut sich vor einer Fernsehkamera auf und erklärt, wie das zu deuten ist: «SP und Grüne erreichen einen Wähleranteil von 30 Prozent. Heute hatten wir fast 50 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer hinter uns. Das ist keine Niederlage. Das ist ein Sieg.»

Was Maillard nicht sagt: Es ist extrem selten, dass die Stimmberechtigten einer sozialpolitische Vorlage zustimmen, die von den Sozialdemokraten bekämpft wird. Die Niederlage ist eben doch eine.

Aber: Sie fällt dermassen knapp aus, dass die bürgerlichen Parteien daraus keine Dynamik für neue Reformen gewinnen können. Eine Gewerkschafterin sagte im Berner Kulturzentrum zu einem Kollegen: «Die Jungfreisinnigen können ihre Initiative fürs Rentenalter 67 kübeln. Komplett aussichtslos ist die».

Warum waren SP, Grüne und die Gewerkschaften um ein Haar erfolgreich in ihrem Kampf gegen Rentenalter 65 für Frauen? Im Saal ist man sich einig: Das Problem sei nicht die AHV. Dass Frauen im gleichen Alter pensioniert werden wie Männer, dagegen spreche eigentlich nichts.

Aber: Die Bürgerlichen hätten unterschätzt, wie unzufrieden viele Schweizerinnen mit ihren Pensionskassen seien. Wer ein Teilzeitpensum absolviere, komme schlecht weg. Anfang September verschob die Sozialkommission des Ständerats die Reform der beruflichen Vorsorge, zum wiederholten Mal. Für das Komitee gegen die AHV- Reform kam das wie gerufen: Wenn die Frauen nicht endlich bessergestellt werden bei den Pensionskassen, warum sollen sie ein Jahr länger arbeiten, um ihre AHV-Rente zu beziehen? Das Argument der mangelnden Fairness machte die Runde. Es wurde angereichert mit Klagen über die nach wie vor fehlende Lohngleichheit zwischen den Geschlechtern. Und die familienexterne Kinderbetreuung belaste die Haushaltsbudgets zu stark.

Wermuth stellt nun Forderungen an die Bürgerlichen

Der Moderator des Schweizer Fernsehens verkündet nun, dass die Teilaufhebung der Verrechnungssteuer gescheitert sei. Kräftiger Applaus im Saal.

Cédric Wermuth sagt: «Ich hoffe, dass die Bürgerlichen nun mitmachen bei einer Reform der beruflichen Vorsorge, die den Frauen entgegenkommt.» Und die Versuche, Steuern für Bessergestellte zu reduzieren, seien an diesem Sonntag definitiv gescheitert. Die SP biete bei Steuervorlagen Hand für Kompromisse. Die Bürgerlichen müssten aber aufhören, mit dem Kopf durch die Wand zu wollen.

Wermuth spricht nicht wie jemand, der eine wichtige Abstimmung verloren hat. In der SP keimt die Hoffnung, dass die Partei im Oktober 2023 nicht zurückfällt. Das hat mit der sogenannten Themenkonjunktur zu tun: Ökologische Fragen könnten in den Hintergrund rücken, während die Sozialpolitik an Gewicht gewänne. Stark steigende Krankenkassenprämien, höhere Strompreise, allgemein wachsende Inflation – ist das nicht eine gute Ausgangslage für eine Partei, die sich einsetzen will für Leute mit tiefem Einkommen?

Der linksliberale Flügel verstummt

Die SP schnitt schlecht ab in den Wahlen von 2019 und kam auf nur 16,8 Prozent. Büsst sie im kommenden Herbst weiter Wählerprozente ein, droht ihr der Verlust eines Sitzes im Bundesrat. Es wäre ein Albtraum für Mattea Meyer und Cédric Wermuth. Sie führen die Partei seit zwei Jahren und sind bereits ziemlich erfahren darin, Niederlagen schönzureden.

Markiert der 25. September den Umschwung? Dass die Grünen der SP Wählerinnen und Wähler in grosser Zahl abjagen, hört das nun auf? Balthasar Glättli, der Präsident der Grünen, gibt sich unbeeindruckt: «Ich höre seit vielen Jahren, dass das ökologische Thema an Dringlichkeit verliere. Eingetroffen ist das aber nie. Unsere Abhängigkeit von fossilen Energieträgern ist ein zentrales Problem.»

In der SP gibt es einige Leute, die sich ein klareres Ja zur AHV-Reform gewünscht hätten. Es ist der Flügel am rechten Rand. Die Sozialliberalen haben an Einfluss verloren. Sie werfen Meyer und Wermuth vor, dass sie die SP zu weit nach links führen.

Hätte das Stimmvolk die Reform deutlich angenommen, wäre die Zusammenarbeit zwischen der SP und den Gewerkschaften erschüttert worden. Die Gewerkschaften führten eine Kampagne, die Unwahrheiten verbreitete: Es gehe um Rentenalter 67 für alle und nicht 65 für Frauen, zum Beispiel. Einigen Sozialdemokraten fanden das nicht gut. Sie kritisieren, dass Gewerkschafter Maillard mithalf, den Rahmenvertrag mit der EU zu beseitigen. Seither verliere die SP nicht nur Wähler an die Grünen, sondern auch an die Grünliberalen.

Nun ist das Resultat aber so herausgekommen, dass SP und Gewerkschaften weiter Seite an Seite politisieren. Einen Beitrag dazu leistete SP-Sozialminister Alain Berset. Er plädierte im Abstimmungskampf für die AHV-Vorlage. Und tat das dermassen lustlos, dass alle sofort merkten: Er hält wenig von der Reform.

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