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Neurochirurg Javier Fandino wirft Gallatis Departement Rufschädigung vor – KSA akzeptiert die Verwarnung

Es war ein plötzlicher Bruch. Am 24. April 2020 wird Javier Fandino als Chefarzt der Klinik für Neurochirurgie des Kantonsspitals Aarau (KSA) freigestellt. Bis heute ist unklar, warum es zur Trennung kam. Für einige ist Fandino ein Held, der für Transparenz kämpft und ärztliche Fehler lückenlos aufarbeiten will. Für andere ist er das Gegenteil davon. Zwei ehemalige KSA-Ärzte haben schwere Vorwürfe erhoben.

Es geht um Patientinnen und Patienten, die er ungenügend aufgeklärt haben soll. Um Studien ohne Bewilligung. Um die Verwendung des Kontrastmittels 5-ALA, das Javier Fandino routinemässig auch bei gutartigen Hirntumoren angewendet haben soll. Und es geht um eine Schädeloperation, bei der er die Seiten verwechselt haben soll.

Zeugen befragt und Expertenmeinungen eingeholt

Seit Freitag ist klar: «Einzelne» Vorwürfe gegen Javier Fandino und das Kantonsspital Aarau, die zwei ehemalige KSA-Ärzte erhoben haben, sind begründet. Zu diesem Ergebnis kommt das Aufsichtsverfahren der kantonalen Abteilung Gesundheit.

Die Behörde hat diverse Zeugen befragt und Meinungen von Expertinnen und Experten des Unispitals Zürich, des Inselspitals Bern oder der Ethikkommission eingeholt. Auch die kantonale Heilmittelbehörde sei befragt worden, sagt Barbara Hürlimann, Leiterin der Abteilung Gesundheit. Letztlich habe sich herausgestellt, dass zwei der Vorwürfe begründet sind.

Fandino hat einen Schädel auf der falschen Seite geöffnet

Bei Javier Fandino beanstandet die Abteilung Gesundheit die «unzulässige durchgehende Anwendung des Wirkstoffs 5-ALA bei operativen Eingriffen zur Entfernung von gutartigen Hirntumoren». Dies stehe im Widerspruch zur Praxis des Universitätsspitals Zürich und des Inselspitals Bern sowie zur wissenschaftlichen Literatur, welche die Anwendung von 5-ALA nur bei der Entfernung bösartiger Hirntumore als zulässig erachte.

Weiter habe Javier Fandino infolge «mangelhafter Vorbereitung eines operativen Eingriffs» die falsche Seite eines Schädels geöffnet, sodass im Zuge der Operation auch die andere Seite habe geöffnet werden müssen. Sowohl die Seitenverwechslung als auch die durchgehende Anwendung von 5-ALA stellten eine Verletzung der Regeln der ärztlichen Kunst dar.

Beim KSA beanstandet die Abteilung Gesundheit, die Führung habe bezogen auf den Einsatz von 5-ALA und die Seitenverwechslung die «spitalinterne Aufsichtspflicht mangelhaft wahrgenommen». Der Spitalleitung sei der durchgehende Einsatz des Wirkstoffs 5-ALA bekannt gewesen und die Öffnung einer falschen Schädelseite habe sie nicht weiterverfolgt.

Strategie-Fehler sind nicht Sache der Abteilung Gesundheit

Die übrigen Vorwürfe gegen das KSA und Javier Fandino hätten sich als «unbegründet» herausgestellt oder würden Bereiche betreffen, für deren Beurteilung die Abteilung Gesundheit nicht zuständig ist», heisst es in der Mitteilung. Auf Anfrage führt Hürlimann aus:

«Unbegründet sind unter anderem die Vorwürfe der unethischen Forschung oder der fehlenden Einwilligungen von Patientinnen und Patienten.»

Mit den vorgeworfenen Strategie-Fehlern, die sich vor allem gegen die KSA-Führung richteten, hat sich die Abteilung Gesundheit nicht befasst. Für strategische Fragen sei diese nicht zuständig, sagt Hürlimann. «Das ist Sache des Verwaltungsrates oder des Eigentümers.»

Barbara Hürlimann, Leiterin der kantonalen Abteilung Gesundheit. 

Sowohl für Javier Fandino als auch für das KSA hat das Aufsichtsverfahren Konsequenzen. Fandino wird gestützt auf das Medizinalberufegesetz mit 10’000 Franken gebüsst wegen Nichteinhaltung der sorgfältigen und gewissenhaften Berufsausübung sowie wegen Nichtwahren der Rechte der Patienten.

Laut Medizinalberufegesetz hätte Fandino für die Sorgfaltspflichtverletzung auch nur verwarnt werden können oder ihm hätte die Berufsausübungsbewilligung entzogen werden können. Die Abteilung Gesundheit hat ihn gebüsst. Hürlimann sagt dazu:

«Es handelt sich nicht um Bagatellen, sonst hätten wir nur eine Verwarnung ausgesprochen.»

Gleichzeitig seien weder bei der Anwendung von 5-ALA noch bei der Schädeloperation Patientinnen oder Patienten zu Schaden gekommen. «Ein Entzug der Berufsausübungsbewilligung wäre nicht verhältnismässig gewesen», sagt Hürlimann.

Gegen das KSA hat die Abteilung Gesundheit eine Verwarnung ausgesprochen. Dass Fandino gebüsst und das KSA für die Aufsichtspflichtverletzung «nur» verwarnt wurde, liegt daran, dass das Spitalgesetz als Sanktion entweder eine Verwarnung oder dann einen Bewilligungsentzug vorsieht. Barbara Hürlimann sagt:

«Bereits Verwarnungen werden sehr selten ausgesprochen.»

Seit sie beim Kanton Aargau die Abteilung Gesundheit leitet – das sind knapp fünf Jahre –, sei das erst einmal vorgekommen.

Nebst der Verwarnung beziehungsweise Busse müssen sowohl Javier Fandino als auch das KSA eine Gebühr von je 8000 Franken für die Verfahrenskosten tragen. Die Entscheide sind noch nicht rechtskräftig. Sowohl das KSA als auch Javier Fandino können sie mittels Beschwerde beim Regierungsrat anfechten.

Javier Fandino operiert inzwischen an der Hirslanden

Als das Aufsichtsverfahren im September 2020 eröffnet wurde, war Javier Fandino schon mehrere Monate nicht mehr am KSA tätig. Seit diesem Jahr ist er Belegarzt an der Hirslanden Klinik in Aarau. Hirslanden hat ihn trotz des damals laufenden Aufsichtsverfahrens angestellt. Sprecher Philipp Lenz hielt damals gegenüber der AZ fest: «Hirslanden prüft jede Akkreditierung von neuen Belegärzten unter Einbezug aller verfügbaren Informationen genau.»

Am Freitag teilt Lenz auf Anfrage mit, man nehme den Entscheid sowie «die unterschiedliche Interpretation der Involvierten» zur Kenntnis. Grundsätzlich nehme man zu Verträgen mit einzelnen Belegärztinnen und Belegärzten nicht Stellung. Lenz betont:

«Aktuell gibt es für die Hirslanden Klinik Aarau keinen Grund, in der hervorragend aufgestellten Neurochirurgie Massnahmen zu ergreifen.»

Javier Fandino selbst wies die erhobenen Vorwürfe zurück, noch bevor das Gesundheitsdepartement überhaupt angefangen hatte, sie zu untersuchen. Im September 2020 sagte er zur AZ: «Ich habe nichts Unethisches gemacht. Alle meine Studien wurden von der Ethikkommission bewilligt und die Patientinnen und Patienten aufgeklärt.»

KSA-Verwaltungspräsident Peter Suter sagte, die Vorwürfe seien «in dieser Form unzutreffend, haltlos und teilweise sogar absurd». Er bedauerte, «dass sich zwei in früheren Jahren verdiente und inzwischen pensionierte Mitarbeiter zu derartigen Unterstellungen haben hinreissen lassen».

Javier Fandino: «Tatsachenwidrig und in höchstem Mass rufschädigend»


Javier Fandino verschickte am Freitag postwendend eine Stellungnahme zur Mitteilung des Kantons. Er schreibt, er nehme den Entscheid mit «grosser Genugtuung» zur Kenntnis. Das Aufsichtsverfahren komme zum Ergebnis, dass «praktisch alle Vorwürfe unbegründet waren». Insbesondere «sämtliche ungerechtfertigten Vorwürfe» bezüglich seiner Berufsethik hätten sich «in Luft aufgelöst». Diese Entlastung sei für ihn «nicht überraschend».

Fandino kritisiert, diesem entlastenden Umstand werde in der Kommunikation des Gesundheitsdepartements zu wenig Rechnung getragen. Er wirft dem Gesundheitsdepartement sogar vor, die Aussage, dass er bei der Schädeloperation die falsche Seite geöffnet habe, sei «tatsachenwidrig und in höchstem Mass rufschädigend». Wie die Behörde zu dieser Schlussfolgerung komme, sei ihm «völlig schleierhaft».

Den Patienten ohne Information heilen oder abbrechen?

Fakt sei, der Patient sei zu Beginn der Operation auf der vorbesprochenen Seite operiert worden. Während der Operation habe er, Fandino, dann erkannt, dass zur Heilung auch die andere Schädelseite geöffnet werden müsse. «Wir standen also während der Operation vor der Wahl, den Patienten ohne Information zu heilen oder die Operation abzubrechen, den Patienten zu informieren und ihn erneut zu operieren.» In Absprache mit dem Team habe er sich für die Heilung ohne vorgängige Information entschieden. Den Patienten habe er unmittelbar nach der Operation informiert. Heute habe der ­Patient eine «deutlich verbesserte Lebensqualität». Damit sei das Ziel des Eingriffs erreicht worden.

In Bezug auf den zweiten Punkt, bei dem es um die flächendeckende Anwendung des Kontrastmittels 5-ALA bei gutartigen Tumoren geht, teilt Fandino die Einschätzung des Gesundheitsdepartements nicht. 5-ALA sei am KSA seit 2007 im Einsatz – also lange bevor er 2011 Chefarzt wurde. «Ich habe weitergeführt, was bereits seit Jahren etabliert war.» Die Patientinnen und Patienten seien darüber informiert worden und hätten vorgängig eingewilligt. Die Behandlungen seien durch diese Technik optimiert worden. «Nebenwirkungen gab es in keinem Fall», so Fandino. Ausserdem finde 5-ALA weltweit immer mehr Anwendung.

KSA nimmt den Entscheid mit Genugtuung zur Kenntnis


Die Verantwortlichen des Kantonsspital Aarau (KSA) akzeptieren den Entscheid und damit die Verwarnung wegen Verletzung der Aufsichtspflicht. Auf Anfrage hält die Medienstelle fest:

«Der Entscheid entlastet das KSA in allen Punkten, ausser den Vorwürfen gegen den ehemaligen Chefarzt.»

Aus diesem Grund gebe es keine Veranlassung, beim Regierungsrat eine Beschwerde einzureichen.

In der Medienmitteilung vom Freitag schreibt das KSA weiter, die Leitung nehme den Entscheid des Departements Gesundheit und Soziales «mit Genugtuung» zur Kenntnis. «Die Vorwürfe gegen das KSA und seine Organe haben sich als nicht stichhaltig erwiesen und konnten durch Fakten widerlegt werden.» «Lediglich» in zwei Bereichen seien dem KSA Auflagen gemacht worden. Beide würden «direkt mit der früheren Tätigkeit eines mittlerweile ausgetretenen Chefarztes zusammenhängen», hält das KSA fest.

Massnahmen direkt nach Fandinos Weggang umgesetzt

Das Spital habe entsprechende Massnahmen bereits direkt nach dessen Weggang aus dem KSA umgesetzt. Die Analysesubstanz 5-ALA werde bei neurochirurgischen Eingriffen «State of the Art» angewendet und somit – wie durch das Gesundheitsdepartement gefordert – nicht durchgehend bei gutartigen Hirntumoren eingesetzt.

Bei der Seitenverwechslung verweist das KSA in seiner Mitteilung auf das Ergebnis des Aufsichtsverfahrens und hält fest, dabei handle es sich um eine «mangelhafte Ausübung der ­Sorgfaltspflicht des ehemaligen Chefarztes». Zur Verhinderung von Seitenverwechslungen werde im KSA grundsätzlich seit Jahren das nach interna­tionalem Standard zweistufige Sicherheitsverfahren angewendet. Dabei werde am Vortag gemeinsam mit der Patientin oder dem Patienten die Operationsseite markiert und vor der Operation ein Safety-Check durchgeführt.

Andreas Huber: «Eine Verwarnung kann doch keine Genugtuung sein»

Andreas Huber ist einer der beiden ehemaligen KSA-Ärzte, die das Aufsichtsverfahren ins Rollen brachten. Huber war, als er 2018 pensioniert wurde, nicht nur Chefarzt Labormedizin, sondern auch stellvertretender CEO des Kantonsspital Aarau (KSA).


Von den zahlreichen Vorwürfen, die er nicht nur gegen Javier Fandino, ­sondern auch gegen die Spitalleitung, namentlich den damaligen CEO Robert Rhiner und Medizinchef Christoph ­Egger richtete, erwiesen sich letztlich zwei als begründet. Huber ist trotzdem zufrieden.

«Wir haben erreicht, dass der Wirkstoff 5-ALA nur noch für Gliome und nicht mehr für andere Hirntumore, wo es keine Indikation gibt, angewendet wird.»

Ausserdem sei das Gesundheitsdepartement zum Schluss gekommen, dass Javier Fandino seine Sorgfaltspflicht verletzt habe. «Das ist nicht einfach nichts. Dass eine Ärztin oder ein Arzt sorgfältig handelt, ist das A und O einer guten medizinischen Behandlung», so der pensionierte Chefarzt.

Irritiert ist Andreas Huber, dass die KSA-Leitung den Entscheid mit «Genugtuung» zur Kenntnis nimmt. «Eine Verwarnung wegen der Verletzung der Aufsichtspflicht ist doch keine Genugtuung», kommentiert er. Er verstehe diese Grundhaltung nicht. Sie ist für ihn ein Zeichen von fehlender Fehlerkultur.

Andreas Huber bereut es nicht, dass er die Vorwürfe erhoben hat. Er würde heute genau gleich handeln. Gleichzeitig frage er sich manchmal schon, ob eine so aufwendige Untersuchung tatsächlich nötig war. «Wir haben den Verwaltungsrat mehrmals über unsere Vorwürfe informiert. Aber sie wollten uns nicht hören.» Deshalb sei ihnen nichts Anderes übrig geblieben, als sich an Gesundheitsdirektor Jean-Pierre Gallati zu wenden. «Aber eigentlich hätte die Probleme auch ein gutes Management lösen können.»

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