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«Was für ein Glück es ist, ein sicheres Zuhause zu haben»: So stellte ein Flüchtling das Leben einer Aargauer Familie auf den Kopf

Familie Fischer nahm einen minderjährigen Asylsuchenden aus Eritrea bei sich auf. Was sie erlebten, hielt die Mägenwilerin Melanie Bär in einem Buch fest. Ein Auszug.

«Das ist Lukas, er kann noch nicht gehen», sagt Mara und trägt eine Handpuppe durch die Küche. Lukas ist fast genauso gross wie die Dreijährige, hat wie sie blondes Haar. Babyweinen ist zu hören. Es stammt von Gabriel, Maras Bruder. Er ist vom Mittagsschlaf aufgewacht. «Waren wir zu laut?», fragt Mara. Mutter Manuela Fischer verneint. Der Kleine hat noch keinen regelmässigen Schlafrhythmus.

Vater Thomas Fischer steigt die Treppe hoch und hebt den sechs Monate alten Buben aus dem Gitterbettchen. Kurz darauf sitzen sie mit Mikele (Name geändert), dem 15-jährigen Pflegesohn, am Tisch in der Wohnküche. Mikele rückt mit dem Stuhl ein bisschen zur Seite, als Mara sich mit ihrer Handpuppe ebenfalls an den Tisch setzt und zuhört, was ihr Pflegebruder über seine Flucht in die Schweiz erzählt.

Er war elf Jahre alt, als er seine Eltern und Geschwister in Eritrea verliess, um in den Sudan zu reisen. Mit einem Kollegen, der «einen Plan» hatte, wie er ihm sagte. Als Grund seiner Flucht nennt er die Perspektivenlosigkeit, die Jugendliche in seinem Herkunftsland haben: «Nur die Besten drei des Jahrgangs können die Universität besuchen, alle anderen müssen ins Militär einrücken. Wir haben keine Zukunft dort.»

Statt einer Schifffahrt nahm er den längeren Weg auf sich

Das habe ihn bewogen, mit seinem Kollegen mitzugehen. Zuerst in den Sudan, wo sie sich ein Jahr lang aufhielten und dann die Gelegenheit bekamen, in einem Auto nach Libyen mitzufahren. Die Fahrt war gefährlich: Zusammengepfercht versteckten sie sich im Fahrzeug, wo es nach Abgas und Erbrochenem stank, sie hungerten und in Angst lebten, entdeckt zu werden.

Nach zwei Wochen kamen sie in Libyen an und verbrachten dort ein Jahr lang in einem Camp mit vierhundert Personen. «Für acht Personen gab es einen Topf mit Essen. Wer nicht schnell ass, für den war nichts mehr übrig.» Mikele wollte weg, doch er hatte gehört, dass auf der Schifffahrt Boote gekentert und Passagiere ertrunken seien. Er entschied sich, nicht einzusteigen. Versteckt unter einer Plane eines Pick-ups und danach im Kofferraum eines Autos, gelangte er nach einer zweitägigen Fahrt in die Hauptstadt Tripolis.

«Viel Stress» sei die Reise gewesen, sagt er in gebrochenem Hochdeutsch. In Tripolis nahm er Kontakt mit Unicef, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, auf, die ihn mit dem Flugzeug nach Niger brachten. Dort wartete er weitere drei Monate, bis er schliesslich mit dem Flugzeug in der Schweiz landete. Damit endete im Februar 2020 die Reise auf der Suche nach einer neuen Heimat.

In der Schweiz verbrachte er zuerst ein halbes Jahr in einem Wohnheim für minderjährige Asylsuchende. Als er von seiner Beiständin gefragt wurde, ob er zu einer Pflegefamilie wechseln wolle, musste er nicht lange überlegen. «Ja, gerne», habe er geantwortet und begründet: «Ich brauche Hilfe beim Deutschlernen.»

Mutter: «Wir wollten wissen, wie die Exit-Strategie aussieht»

Zur selben Zeit erhielt Manuela Fischer ein SMS von ihrer Cousine, die als Berufsbeiständin für unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA) für den kantonalen Sozialdienst arbeitet. «Wir suchen eine Familie für einen Pflegebuben aus Eritrea», schrieb sie. «Zwar hatten wir uns Anfang 2020 als Ehepaar grundsätzlich Gedanken darüber gemacht, wie unser weiterer Weg aussehen könnte, aber Pflegeeltern zu werden, wollten wir eigentlich nicht», erinnert sich Thomas Fischer.

«Deshalb wollten wir genau wissen, was es bedeutet, ein Kind aufzunehmen, und wie die Exit-Strategie aussieht», fügt Manuela Fischer an. Ihre Cousine gab ihnen Auskunft und informierte sie, dass die Behörde unter anderem mit Familynetwork zusammenarbeitet. Das Ehepaar nahm Kontakt mit der Organisation auf und besuchte Kurse. Sie sahen sich Mikeles Steckbrief an, der darin Interesse an Sport, Musik, einer Schreinerlehre und den Willen, Deutsch zu lernen, bekundete. Viele seiner Interessen deckten sich mit jenen von Thomas Fischer.

Im Juli 2020 besuchte Mikele die Familie in ihrem Daheim in Egliswil, im Aargauer Seetal. Damals war Manuela schwanger und sagte mit Blick auf Mara und ihren runden Bauch: «Wenn du dir uns als Familie vorstellen kannst, dann bist du herzlich willkommen.» Mikele konnte es und zog im Oktober 2020 bei der Familie ein.

Zuvor hatten Manuela und Thomas das Zimmer, das sie bisher als Büro benutzt hatten, leergeräumt und darin ein Schlafzimmer für den ihnen noch fremden Jugendlichen eingerichtet. Knapp 15 Jahre alt, bezog Mikele zum ersten Mal in seinem Leben ein eigenes Zimmer. Neben dem Bett, dem Schrank und dem Schreibtisch steht ein Keyboard darin. «Wenn ich darauf spiele, fühle ich keinen Stress mehr. Musik beruhigt mich», sagt Mikele.

Die Reise hat Spuren hinterlassen. Doch hier in der Schweiz, bei Familie Fischer, sei er angekommen und froh, nicht mehr allein zu sein. Er hat die Aufenthaltsbewilligung B erhalten, die jährlich um ein weiteres Jahr bewilligt wird. Mit seiner Familie in Eritrea telefoniert er regelmässig. Zurück will er nicht. Zu gross ist seine Angst, dass er festgehalten und zum Militärdienst gezwungen wird.

Die Dreijährige hilft ihm beim Deutschlernen

Was für viele Jugendliche in der Schweiz normal ist, ist für Mikele keine Selbstverständlichkeit. «Ich möchte hierbleiben, besser Deutsch lernen, einen Beruf lernen, arbeiten und eine Familie gründen.» Einen Berufswunsch hat er bereits: Schreiner. Damit sich sein Traum erfüllt und er die Berufsschule schafft, muss er allerdings noch besser Deutsch sprechen.

Dabei ist ihm Mara eine Hilfe. Gemeinsam schauen sie Kinderbücher an und Mara benennt die Bilder. «Sie ist eine strenge Lehrerin», sagt Manuela Fischer und lacht. «Doch heute hat Mikele dir ein Wort beigebracht, weisst du noch, welches?», fragt sie Mara. Das Mädchen hat kein Gehör für die Frage ihrer Mutter und hört auch nicht hin, als Mikele nochmals versucht, das Wort «Kichererbsen» richtig auszusprechen. Zu sehr ist sie damit beschäftigt, Lukas im Puppenwagen herumzustossen.

«Bis jetzt läuft alles gut und es ist schön, dass Mikele hier ist», sagt Manuela und Thomas fügt an: «Er ist ein toller Junge und hat einen starken, edlen Charakter. Das ist absolut nicht selbstverständlich und wir sind einfach nur dankbar.»

Für die beiden habe sich der Versuch trotz anfänglicher Skepsis gelohnt. Die Exit-Strategie kam nicht zum Einsatz. Trotzdem wollen sie nichts schönreden und sprechen offen darüber, dass sie sich wegen Mikele auch einschränken müssen. «Unser Badezimmer gehört nun nicht mehr uns allein, das Büro haben wir jetzt in unserem Schlafzimmer integriert, wir reden oft Hochdeutsch, versuchen Ausflüge und Aktivitäten auch seinen Bedürfnissen anzupassen und haben einen Teil der Privatsphäre aufgegeben.»

Doch sie sind bereit, diesen Beitrag zu leisten, um Mikele den familiären Rahmen zu geben, den ein Jugendlicher braucht. «Jeder weiss, dass es überall Kinder gibt, die keine Eltern haben, die sich um sie kümmern. Doch erst mit Maras Geburt ist mir so richtig bewusst geworden, was für ein Glück es ist, ein sicheres Zuhause zu haben, jeden Abend im eigenen Bett schlafen zu können und jemanden zu haben, der sich um einen kümmert», sagt Manuela.

Mara hat ihre Puppe auf Mikeles Schoss gelegt, nimmt einen Schoppen und steckt ihn in Lukas’ Mund. «Mir gefällt es hier», sagt der Teenager. Auch wenn er nicht alles wortwörtlich verstanden hat, was am Tisch gesprochen wurde, so scheint er das Wichtigste mitbekommen zu haben: Er ist willkommen bei Mara, Gabriel, Manuela und Thomas Fischer.

Autorin und Gastmutter kommen erneut zusammen

Das ist er auch heute noch – knapp zwei Jahre nach diesem Interview bei Familie Fischer. Das Porträt über ihn und Familie Fischer ist im Rahmen einer Porträtserie von zwölf Pflegefamilien für das Buch «Unser Herz ist ein dehnbarer Muskel» entstanden. Dieser Text ist ein Ausschnitt aus dem Buch.

Auf Nachfrage sagt Manuela Fischer, dass Mikeles Berufswunsch, Schreiner zu werden, nicht in Erfüllung ging. Stattdessen macht der mittlerweile 17-Jährige heute eine berufliche Grundbildung mit Berufsattest als Logistiker. Für die höhere Ausbildung mit Eidgenössischem Fachausweis reichte es aufgrund der lückenhaften Grundbildung und der Sprache nicht. Noch nicht.

«Im Betrieb sind sie sehr zufrieden und in der Berufsschule macht er es auch gut. Er muss einfach noch besser Deutsch lernen», sagt Manuela Fischer. Sie und Mann Thomas unterstützen Mikele beim Lernen. «Manchmal wäre es einfacher, drei Gleichaltrige zu betreuen, doch es hat auch Vorteile.» Welche und wie es der Familie heute geht beantwortet die Gastmutter der Autorin und dem Publikum an einer Lesung am 18. Januar in der Wettinger Gemeindebibliothek.

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