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Studie zeigt: Der Stress ist nach zwei Jahren Pandemie so hoch wie noch nie – was kann man dagegen tun?

19 Prozent von 11'167 Befragten in der Schweiz haben schwere depressive Symptome. Stark betroffen sind Jugendliche von 14 bis 24 Jahren. Das zeigt die neue Swiss Corona Stress Studie von Neurowissenschaftler Dominique de Quervain.

Der psychische Stress der Menschen ist nach fast zwei Jahren Pandemie so hoch wie nie. Wo sehen Sie die Hauptprobleme?

Dominique de Quervain: Das Hauptproblem ist die Pandemie. Sie ist nicht vorbei. Nachdem die Politik wiederholt Optimismus verbreitet hat, ist es umso bitterer zu realisieren, dass dieser Optimismus verfrüht war.WERBUNG

Was hätte die Regierung tun müssen? Ehrlicher kommunizieren?

Ja. In dieser Pandemie wurden wir immer wieder mit neuen Gegebenheiten konfrontiert – mit neuen Mutationen etwa oder mit Unklarheiten zur Dauer des Impfschutzes. Im Frühsommer hatte der Bundesrat angekündigt, der Impfschutz halte zwölf Monate. Diese gute Nachricht war aber nicht datenbasiert. Vieles war Wunschdenken.

Swiss Corona Stress Study

Dominique de Quervain, Professor für Neurowissenschaft an der Uni Basel, befragte zwischen dem 16. und 28. November 11’167 Personen in einer anonymen Online-Umfrage zu ihrer Stressbelastung in der Pandemie. Es ist die vierte Welle der Swiss Corona Stress Study.

Sie zeigt: 19 Prozent der Befragten haben schwere depressive Symptome. Der Impfstatus spielt dabei keine Rolle. Am stärksten davon betroffen sind Leute mit finanziellen Verlusten, mit psychiatrischer Vorerkrankungen – und Junge. Der Schuldruck ist bei Jugendlichen zwischen 14 und 24 Jahren der stärkste Belastungsfaktor.

Geimpfte Eltern mit Kindern zwischen 4 und 11 Jahren haben am meisten Sorgen vor einer Ansteckung ihrer Kinder mit dem Coronavirus. Nur gerade 17 Prozent haben überhaupt keine Angst davor. Bei den ungeimpften Eltern haben 68 Prozent überhaupt keine Angst vor der Ansteckung ihrer Kinder. (att)

19 Prozent der Befragten sind schwer depressiv. Ist das ein Alarmzeichen für die Gesellschaft?

Aus Umfragen kann man keine Schlüsse auf die gesamte Gesellschaft ziehen. Was wir aber sehen, ist eine Zunahme der depressiven Symptome im Vergleich zum Beginn der Pandemie. Wichtig ist auch zu schauen, wer besonders belastet ist. Bei unserer Umfrage sind es Leute mit finanziellen Verlusten, dann Menschen, die schon vor der Coronakrise psychisch belastet waren und schliesslich die Jungen. Nicht untersucht haben wird das Gesundheitspersonal an der Front. Dieses steht aber ebenfalls unter enormen psychischen Druck.

Besonders stark von schweren Depressionen betroffen sind Jugendliche zwischen 14 bis 24 Jahren. Hat man sie in der Pandemie «vergessen»?

Man hat zumindest vergessen, genau hinzuschauen, woher der Druck kommt. Wir sehen nun, dass bei jenen, die eine Schule oder Hochschule besuchen, der Leistungsdruck an der Schule der stärkste Belastungsfaktor darstellt. Dieser Druck hat in der Pandemie durch Verpassen von Unterrichtsstoff zugenommen. Die Belastung durch Einschränkungen der persönlichen Freiheit rangiert übrigens nicht unter den stärksten Faktoren und ist nicht stärker als die Angst, sich an der Schule oder Uni mit dem Coronavirus anzustecken.

Wie kann die Schule auf diese schweren Depressionen von Jugendlichen reagieren?

«Der Druck in der Pandemie durch Verpassen von Unterrichtstoff hat zugenommen»: Neurowissenschaftler Dominique de Quervain.
«Der Druck in der Pandemie durch Verpassen von Unterrichtstoff hat zugenommen»: Neurowissenschaftler Dominique de Quervain.Twitter

Zunächst einmal muss die Schule ein Problembewusstsein dafür entwickeln, dass der Leistungsdruck ein grosser Stressfaktor ist. Die Bildungsexpertinnen und – experten müssen sich überlegen, wie man das entschärfen kann. Das Problem besteht seit Beginn der Pandemie: Die Schule boxt bestehende Lehrpläne durch, obwohl es zu Schliessungen und Quarantäne-Fällen kam. Dadurch müssen die Jugendlichen den verpassten Stoff nachholen. Das sorgt für gewaltigen Druck. Deshalb wäre es sinnvoll, den Lehrplan in der Pandemie flexibler zu handhaben.

Auch der Gebrauch von Suchtmitteln wie Beruhigungs- und Schlafmitteln, Nikotin und Alkohol steigt. Wie schätzen Sie die Situation hier ein?

Der vermehrte Gebrauch hängt mit dem erhöhten Stressniveau zusammen. Diese Substanzen verschaffen kurzfristig eine Entlastung sind aber auf die Dauer eine Gefahr für die Gesundheit, weil sie abhängig machen und Nebenwirkungen haben.

Der Graben zwischen Geimpften und Ungeimpften, der sich oft mitten durch Familien zieht, stellt eine grosse Belastungsprobe dar. Wie tief ist er?

Das kommt ganz auf die Situation drauf an. Wenn es unterschiedliche Einstellungen rund um das Thema Coronamassnahmen oder Impfung innerhalb der Familie oder des Freundeskreises gibt, dann kann das sehr belastend sein. In solchen Situationen sollte man versuchen, Verhaltensregeln zu finden, die für alle akzeptabel sind. Wenn das innerhalb der Familie im gleichen Haushalt nicht gelingt, führt das zu grösseren Problemen. Ausserhalb der Familie kann man sich aus dem Weg gehen.

Ungeimpfte haben deutlich weniger Ängste in Bezug auf die Pandemie. Leben sie besser?

Das würde ich nicht sagen. Sie erfahren nun grössere gesellschaftlich Einschränkungen, die sie belasten. Und falls sie oder jemand aus ihrem engeren Umfeld ernsthaft an Corona erkrankt, kommen oft grosse Schuldgefühle auf.

Wird sich die Situation mit Omikron zuspitzen?

Davon ist auszugehen. Die Bedrohung durch Omikron ist gross und die Tatsache, dass der Impfschutz nicht mehr so gut ist, wie gegen Delta, dürfte viele belasten. Insbesondere jene, die sich noch nicht Boostern konnten.

Ihre Umfrage zeigt eine grossen Leidensdruck auf. Wer muss nun was tun?

Unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass die psychische Belastung von der Höhe der Welle abhängt. Deshalb sollten die Entscheidungsträger alles Nötige unternehmen, die Pandemiewellen so tief wie möglich zu halten. Ferner sollten jene Menschen, die durch die Massnahmen finanzielle Einbussen erfahren, fair und schnell entschädigt werden. Und die Erziehungsdepartemente müssen realisieren, dass bei Jugendlichen der Leistungsdruck der grösste Belastungsfaktor ist.

Lässt sich aus der Umfrage auch schliessen, dass der grosse Teil der Bevölkerung erstaunlich gut mit all den Belastungen umgeht?

Wie gesagt ist es schwierig, von einer Umfrage auf die gesamte Bevölkerung zu schliessen. Aber ich gehe davon aus, dass die Mehrzahl der Menschen mit den Belastungen einigermassen gut umgehen kann.

Was kann jeder Einzelne, jede Einzelne für die psychische Gesundheit tun in diesen schwierigen Zeiten?

Man kann zum Beispiel vermehrt Sport betreiben. Das hat erwiesenermassen eine stressreduzierende Wirkung. Aber auch leichte körperliche Betätigung wie Spazieren hilft. Wichtig ist auch, dass man sich auf das konzentriert, was in der Pandemie möglich ist und Spass macht. Statt dass man dem nachtrauert, was gerade nicht möglich ist. So kann man die Pandemie einfacher meistern. Aber manchmal ist der Stress einfach zu gross und man gerät in eine Depression. Bei belastenden depressiven Symptomen, die sich nicht bessern, sollte man auf jeden Fall professionelle Hilfe suchen.

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