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Der Maestro ist zurück: Nach dunklen Jahren der Abwesenheit gibt Stromae ein fulminantes Comeback

Sonntagabend, 20 Uhr, Hauptnachrichten auf TF1, dem grössten Privatsender Frankreichs. Moderatorin Anne-Claire Coudray im Gespräch mit dem belgischen Sänger Stromae («Alors on danse», «Formidable»), der sich nach über sechs Jahren Funkstille zum ersten Mal im europäischen TV zurückmeldet. Es ist ein intimes, sehr persönliches Gespräch über das Auf und Ab seiner Karriere und warum er sich im Jahr 2015 abrupt aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat.

Nach dem Erfolg folgte die Depression

Es ist kein Geheimnis: nach seinem kometenhaften Aufstieg und einer pausenlosen, zwei Jahre dauernden Welttournee fühlte sich Stromae ausgebrannt, fiel in ein tiefes, schwarzes Loch. «In ihren Liedern sprechen Sie viel über Einsamkeit», sagt die Moderatorin und will wissen, ob es die Musik war, die Stromae schliesslich geholfen habe, sich davon zu befreien.

Der Sänger hält einen Moment inne. Statt einer Antwort auf die Frage folgen plötzlich Piano-Klänge aus dem Off. Stromae richtet seinen Blick in die Kamera und fängt zu singen an: «Ich bin nicht allein damit, allein zu sein, und das ist immerhin schon etwas». Es ist die erste Zeile seines neuen Songs «L’Enfer» («Die Hölle»). Das Thema ist düster: Es geht um Depressionen und Suizidgedanken, Stromaes ganz persönliche «Hölle», die er in den vergangenen Jahren durchlebt hat.

Geniestreich der Inszenierung – oder doch nur PR?

Die Frontalansprache an das Publikum, unvermittelt und direkt, verfehlt ihre Wirkung nicht. Von einem «Coup», einem «Geniestreich der Inszenierung» schreiben Medien später. Abertausende Male wird der Clip geteilt. Unter der Flut der Reaktionen ist auch Tedros Adhanom Ghebreyesus, Direktor der Weltgesundheitsorganisation «WHO», der sich bei Stromae bedankt. «Es ist so wichtig, sich um Hilfe zu bemühen und jene zu unterstützen, die Hilfe nötig haben», so Ghebreyesus auf «Twitter» über das schwierige Thema Depressionen.

Stromae ist zurück. Und wie. Jetzt diskutiert halb Frankreich über seinen Auftritt und manche fragen sich auch, ob man das darf, ein Nachrichtenformat kapern für eine Performance, die zwar einer oft tabuisierten Krankheit maximale Aufmerksamkeit beschert, aber am Schluss doch nur geschickte PR ist für das neue Album «Multitude», das im März erscheinen wird. So oder so: Stromae hat wieder einmal einen Nerv getroffen.

Sänger, Komponist, Texter, Regisseur: Stromae ist ein Multitalent

Aufgewachsen ist Paul Van Haver, wie Stromae mit bürgerlichen Namen heisst, in der Brüsseler Gemeinde Laeken als Sohn einer belgischen Mutter und eines ruandischen Vaters. Anfang der 1990er Jahre verlässt der Vater die Familie, pendelt als Architekt zwischen Belgien und seinem afrikanischen Heimatland.

Über seinen Papa sagte Stromae später: «Er war nie da für mich. Er war ein Schürzenjäger. Ich habe ihn vielleicht 20-mal gesehen in meinem Leben». Als der Vater 1995 in Ruanda dem Genozid der Hutus an den Tutsis zum Opfer fällt, habe er nicht geweint. Trotzdem: Sein 2013 zu einem Mega-Hit avanciertes Lied «Papaoutai» (Abwandlung von «Papa où t’es?», deutsch: «Papa, wo bist du?») wurde zur tröstlichen Hymne für all jene Kinder, die ohne ihren Vater aufwachsen mussten.

«Typisch Stromae», sagt Thierry Coljon, Belgiens führender Musikjournalist bei der Zeitung «Le Soir» jetzt zum medialen Coup rund um den TF1-Ausftritt. Stromae, dessen Pseudonym sich aus einem Anagramm aus «Maestro» speist, sei schlicht ein Multitalent, ein wandelndes Gesamtkunstwerk und vielleicht der schillerndste Musiker, den das Land seit der Ausnahmeerscheinung Jacques Brel hervorgebracht habe.

Der 36-Jährige sei nicht nur ein begnadeter Sänger, Texter und Komponist, der verschiedenste Stilrichtungen von Rap, über Elektro und afrikanischen Rhythmen virtuos zusammenmische. Sondern auch ein erstklassiger Produzent, Regisseur, Tänzer, Schauspieler und Modedesigner. Eingerahmt werde das alles von seinem Talent zur Selbstvermarktung: ein «Marketing-Genie» sei Stromae, zusammen mit seinem mit seinem Bruder Luc, der ihn als künstlerischer Direktor unterstützt und mit dem er die gemeinsame Produktionsfirma «Mosaert» betreibt.

Wahrscheinlich der schillernste Künstler Belgiens seit Jaques Brel: Stromae (Paul Van Haver) am Paléo Festival in Nyon 2014.

Stromae ist ein Verbündeter im Kampf gegen die Widrigkeiten

Das Geheimnis seines Erfolges liegt aber nicht nur in der perfekt organisierten Inszenierung. Vielmehr habe Stromae eine empathische Begabung, die seinesgleichen suche: Er habe «Antennen wie ein Ausserirdischer» und sauge alles wie ein Schwamm auf, was um ihn herum passiere, so Musikjournalist Coljon. Seine Meisterschaft sei es, dass er dunkle, traurige Geschichten in tröstliche, schlussendlich aufbauende Musik verpacke. Mal singt er über Krebs, wie im Lied «Quand c’est?», mal über Kindsmissbrauch im Song «Dodo», oder er teilt seine dunklen, depressiven Gedanken wie jetzt in «L’Enfer». Dass man ihm seine Geschichten abnimmt, dass er niemals aufgesetzt, sondern stets authentisch und mitfühlend wirkt, wie ein Botschafter für das Leben entgegen all seinen Widrigkeiten, macht ihn nahbar und zum Verbündeten für jedermann.

Stromae selbst formuliert es im Interview mit TF1 so: «Es ist die Art, wie ich das Leben sehe. Es ist weder schwarz, noch weiss. Manchmal ist es schwer, manchmal ist es fröhlich. Es gibt keine Hochs, ohne Tiefs. Es gibt keine Tiefs, ohne die Hochs. C’est la vie».

Stromae – «Multitude», erscheint am 4. März 2022. Live in der Schweiz: 24. Juli, Paléo Festival, Nyon.Im Jahr 2023: 26. April, Basel, St. Jakobshalle; 27. & 28. April, Genf, Arena.

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