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Aargauerin hält ihren Bruder fest, Freund prügelt auf ihn ein – und das soll Notwehr sein?

Seine Schwester hielt ihn fest, deren Freund prügelte auf ihn ein. Ebendieser Freund zog bis vor Bundesgericht, das ihm aber auch nichts anderes beschied, als das Bezirksgericht Lenzburg und das Obergericht.

Der Zürcher Milieuanwalt Valentin Landmann nennt es die «Stunde der Idioten». Jene frühen Morgenstunden, in denen fast nur noch Nachtschwärmer unter dem Einfluss von Alkohol oder anderer Substanzen auf den Strassen unterwegs sind. Nun, Landmann meinte damit primär die Strassen Zürichs. Aber auch in Seengen hat sich in einer Frühlingsnacht im Jahr 2020 etwas zugetragen, das zum Ausdruck passt.

Sandro, seine Freundin Kathrin und deren Bruder Raphael (alle Namen geändert) treffen sich an einem Freitagabend draussen, essen, trinken. Viel. Raphael merkt: Sein Portemonnaie ist weg. Er will es suchen, die anderen beiden wollen ihm nicht helfen. Raphael fängt Streit mit seiner Schwester an, nimmt schliesslich eine lose Holzlatte von einer Sitzbank und geht auf Kathrin los. Sandro greift ein, er will seine Freundin schützen.

So weit, so Notwehr. Was dann folgt, dafür wurde Sandro nun auch vom Bundesgericht in letzter Instanz verurteilt. Er hatte einen Strafbefehl erhalten und angefochten, das darauf folgende Urteil des Bezirksgerichts weiter an das Ober- und von dort an das Bundesgericht gezogen.

Nur «e Flättere»?

Was passiert ist, lässt sich aus den Urteilen rekonstruieren. Sandro ringt Raphael zu Boden. Kathrin hält ihren am Boden liegenden Bruder an den Armen fest. Und Sandro, der prügelt auf ihn ein.

Raphaels Verletzungen werden forensisch, also rechtsmedizinisch, untersucht. Er hat einen Schädelbruch erlitten und unter anderem mehrere Blutergüsse und Schwellungen an den Schläfen, der Stirn und am Hinterkopf, an der Wange und am Augenunterlid. Dazu Blutergüsse am Mund, am Rücken und Kratzer an der Stirn, am Hals und am Oberschenkel. Das forensische Gutachten zeigt deutlich: Das alles passt zu stumpfer Gewalteinwirkung, sprich, Faustschlägen.

Also ganz anders, als es die beiden dargestellt hatten. Kathrin hatte ausgesagt, sie und Sandro hätten Raphael «sanft auf den Boden abgelegt und ihm danach eine ‹Flättere›, beziehungsweise maximal einen Faustschlag ins Gesicht erteilt». Sandro wiederum hatte behauptet, Raphael sei gestürzt. Beides passt so ganz und gar nicht zu den Verletzungen.

Was dafür umso besser aufgeht sind die forensischen Untersuchungen bei Sandro. Die Wunden an den Fingern und die Kratzer passen zu mehrfachen Schlägen mit den Fäusten. Und dazu, dass sich das Opfer gewehrt hat.

Anfeuern reicht schon

Von Raufhandel ist die Rede bei dem, was sich zwischen den dreien abgespielt hat. Raphael und Kathrin wurden in separaten Strafbefehlen verurteilt und haben ihre Strafen akzeptiert. Als Raufhandel definiert die Justiz eine tätliche, wechselseitige Auseinandersetzung zwischen mindestens drei Personen. Körperliche Gewalt braucht es indes gar nicht, es reicht eine psychische Mitwirkung, wie das Obergericht ausführt. Beispielsweise durch Anfeuern. Und: Raufhandel ist es auch, wenn man schlägt, um sich selbst oder andere zu schützen. Allerdings kommt man dann straffrei davon.

Haben auch Sandro und Kathrin den Angreifer nur abwehren wollen? Ab dem Moment, als Raphael am Boden lag, wäre das nicht mehr nötig gewesen. Sie hätten einfach gehen können, konstatiert das Obergericht.

Das wird teuer

Aber eben, Sandro sah das anders. Das Bezirksgericht Lenzburg sprach ihn schuldig. Er wurde bestraft mit einer Busse von 3300 Franken und einer bedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen à 170 Franken (15’300 Franken). Das Obergericht hätte 120 Tagessätze und 5100 Franken Busse gesprochen – hätte, denn es darf nicht. Dies, weil nur Sandro das Verfahren weitergezogen hat und die Staatsanwaltschaft nicht. In diesem Fall gilt das sogenannte Verschlechterungsverbot, was bedeutet, dass das Obergericht das Strafmass der vorherigen Instanz nicht erhöhen darf.

Die Verfahrenskosten kamen bis hierhin auf 5066 Franken. Sandro zog das Ganze ja aber noch an das Bundesgericht weiter – und unterlag auch dort. Das kostet ihn weitere 3000 Franken. Eine teure Angelegenheit.

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